Reformation II zum Jahrestag 2017

L 95h - 95 Stunden · 95 Orte · 95 Buchstaben · 1 These

Ob und wie Martin Luther seine Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg genagelt hat oder auch nicht, ist unerheblich. Erheblich ist der performative Akt, der in den Köpfen der Menschen das spröde Wort – sei es noch so brisant – erst lebendig macht. Die Ikone des (bestenfalls wütend) Nagelnden tritt zunächst vor die Inhalte, deren Zorn erst durch das Bild endgültig auszubrechen scheint.

Dieser Akt, sei er historisch verbürgt oder einfach nur geschickt lanciert, wird nun ins Wort zurückgeführt: aus 95 einzelnen und punktuellen musikalisch-künstlerischen Aktionen entstehen 95 einzelne Buchstaben, die im finalen Moment gemeinsam eine neue und aktuelle These ergeben.

Ab dem 27. Oktober um 13.00 h werden im Stundentakt an 95 verschiedenen Orten in Europa nacheinander kleine Luther-playmobil-Figuren in Buchstabenformen live eingeschmolzen. Die Schmelzzeit bestimmt die Dauer der Aufführung, der Ortsname den Buchstaben und dessen Platz in der These. Mit den Interventionen bewegen sich die Künstler sternförmig auf die Lutherkirche in der Kölner Südstadt zu, wo sich am 31. Oktober um 11.00 h alle Buchstaben zu einer These, einem Statement, einer Aussage zusammenfügen, die sich im fortlaufenden Rund immer weiterlesen lässt.

Ankündigungstext: Rochus Aust

Ablaufplan

12.00 Uhr Chlodwigplatz
Eröffnung von Reformation II mit Lk95h (Rochus Aust)
„Prozession“ mit Klanginszenierung aller Weltreligionen über die Merowingerstraße.

12.30 Uhr im Atrium der Lutherkirche:
Künstlerische Intervention mit 95 Buchstaben, den Anfangsbuchstaben europäischer Städte, in denen seit dem 27.10.2017 stündlich Luther-playmobil-Figuren auf Kochplatten ins Fließen gebracht wurden und Ausrufung von Reformation II.

Eine kämpferische herausfordernde klare Ansage an unsere Zeit mit drei grundsätzlichen neuen Thesen von Hans Mörtter.

Talkgottesdienst mit dem mehrfach zitierten Klaus-Peter Jörns

Bericht in Chrismon vom 31.10.2017
Reportage in Choices

Fotos der Buchstabenaktion: 1. Deutsches Stromorchester
Fotos Ausrufung der Reformation II: Helga Fitzner und lutherpics

Pfarrer Hans Mörtter über die Aktion Reformation II

Ausrufung einer neuen anstößigen Reformation

Martin Luther als Playmobil-Figur zum Zusammensetzen und in Plastik gehüllt: Das gab Pfarrer Hans Mörtter zu Denken. Für ihn verdeutlicht das die Kommerzialisierung des Reformators, der zu einem statischen Denkmal, ja zu einem Spielzeug, reduziert wurde. Deshalb wird Mörtter am 31. Oktober 2017 die Reformation II ausrufen und auch gleich drei neue Thesen veröffentlichen, deren Inhalt er vorher nicht verrät. „Die Feierlichkeiten und Selbstinszenierungen der Evangelischen Kirche zum 500jährigen Reformationsjubiläum schauen in die Vergangenheit“, beklagt er, „aber wir müssen reformatorisch neu unsere Zukunft gestalten, zu der eine völlige Neuorientierung und globale Perspektive gehört. Und dazu wollen wir am Jubiläumstag Anstöße geben“.

Nach einem Konzept unseres Kurators Rochus Aust wird ab dem 27. Oktober stundenweise in verschiedenen europäischen Städten der Playmobil-Luther auf eine Kochstelle gesetzt und erhitzt. Pfarrer Mörtter findet das nicht zu drastisch: „Die Figuren werden nicht verbrannt, sondern geschmolzen, und zum Anfangsbuchstaben der jeweiligen Stadt gegossen und verwandelt“, erklärt er. „Buchstabe für Buchstabe wird sich dadurch eine neue grundmenschliche Ansage herausbilden, an der niemand vorbei kann“, verspricht er. Zu den Städten gehören Rom, Calais, Belfast, Castlebellingham, Dublin, Münster, Eisleben, Ivry sur Seine, Paris, Verviers, Liverpool, München, Lissabon, Brüssel, Düsseldorf, Köln, Zürich, Oświęcim, Stuttgart, Dortmund und viele mehr.

Am 31. Oktober 2017 um 12.00 Uhr werden auf dem Chlodwigplatz die 95 Buchstaben inszeniert unter dem Titel „L95 – 95 Stunden – 95 europäische Orte – 95 Buchstaben – 1 These“. Mit einer verfremdenden Klang-Interpretation der Weltreligionen von Rochus Aust geht es dann in einer Prozession über die Merowingerstraße zur Lutherkirche. Dort findet eine Performance zu den 95 Buchstaben mit der Grundansage statt. „Die klassische Ökumene reicht nicht aus. Heute muss die globale Weitung im Dialog und in der Begegnung der Weltreligionen angepackt werden“, fordert Mörtter. „Es ist der Aufbruch für eine größere Gerechtigkeit für alle, inklusive der Geflüchteten. Insbesondere ist das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Armen und Reichen nicht hinnehmbar.“ Mörtter will mit dieser Aktion ein Zeichen setzen: „Zukunft wird es nur miteinander geben und wer das Wort Christus in den Mund nimmt, ist nur glaubwürdig, wenn er das durch Einsatz und Taten belegt, z. B. gegenüber der Errichtung europäischer Außengrenzen weit in Afrika und an der Seite der Armen, die von unserer reichen Gesellschaft entwürdigt und abgeschrieben werden“.
Text und Interview: Helga Fitzner

Pfarrer Hans Mörtters neue Thesen zur Reformation II

L95h – Reformation II Köln, den 31. Oktober 2017
Lutherkirche-Südstadt

FÜR UNEINSCHRÄNKBARE NÄCHSTENWÜRDE MIT RESPEKTVOLLSTER MENSCHENLIEBE UND GRENZENLOSESTEM GRUNDVERTRAUEN

95 Buchstaben – europaweit gesetzt, indem das Denkmal Luther fließend transformiert wird auf Zukunft eines globalen Menschseins.
U.a. an neuralgischen Punkten wie Dublin/Belfast, Rom, Oświęcim-Auschwitz.

Reformation II
Einen Stein ins Wasser werfen, der eigene sich verselbstständigende Kreise zieht. Ein neuer Diskurs über unser Menschsein auf Zukunft miteinander hin.

These I
Luthers Reformation mit der Wiederentdeckung des gnädigen Gottes
führt konsequent zur mutigen Freiheit des gnädigen Menschen in respektvollster Menschenliebe, zur Reformation II. Entsprechend der jesuanischen Goldenen Regel „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“ (Lukas 6, 31) und dem kategorischen
Imperativ von Immanuel Kant.

These II
Der „Antichrist“ der Moderne ist die kannibalische Weltordnung, die Gier der Kapital-Märkte, die Herrschaft der Finanzoligarchie und der transkontinentalen Agrarkonzerne wie Monsanto, Bayer-Leverkusen, Aventis, Pioneer, Syngenta, BASF, Cargill, DuPont, Nestlé ….
Die westliche herrschende Lebensart verkörpert den größten bewussten Terrorismus aller Zeiten. (Jakob Augstein, „Wir Terroristen“ Der Spiegel – online , 16.10.2014.

Jeden Tag sterben 35.000 Kinder unter zehn Jahren an Hunger und Unterernährung. „Der jährliche Massenmord an Millionen von Menschen durch Hunger und Unterernährung auf einem Planeten, der von Reichtum überquellt – bleibt der eigentliche Skandal unserer Zeit.“
(Jean Ziegler, Der schmale Grat der Hoffnung, S. 298 und derss., Ändere die Welt, S. 52)

„Doch wenn wir einen anderen Standpunkt einnehmen, wenn wir das Kind, das stirbt, nicht einfach als statistische Einheit betrachten, sondern als Verschwinden eines singulären, unersetzlichen Wesens, das auf die Welt gekommen ist, um sein unwiederholbares Leben – das einzige, das es hat – zu leben, ist der Fortbestand dieses tödlichen Hungers unerträglich in einer Welt, die so reich ist, dass ihr nichts unmöglich wäre.“ (Jean Ziegler, Wir lassen sie verhungern, S. 48)

Glaubwürdiges Christentum ist herausgefordert, gemeinsam mit den weltweit erstarkenden sozialen Bewegungen und den globalen Bauerngewerkschaften in mutigen Widerstand zu gehen für eine Welt, die endlich menschlich wird.

In der urchristlichen Anfangszeit wurden Christen die „therapeutes“ genannt, die Heilenden. Es ist Zeit, sich an diesen jesuanischen Ursprung zu erinnern, back to the roots, zurück zu den Wurzeln eines urmenschlichen liebevollen Handelns, das in grenzenlosestem Grundvertrauen alles für möglich hält und darum unerschrocken weiß…
Immanuel Kant: „Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“

„Das Leiden des anderen … verletzt mein eigenes Bewusstsein, fügt ihm einen Riss zu, macht es unglücklich, zerstört in mir das, was ich als einen unverzichtbaren Wert empfinde: den Wunsch, nicht zu leiden, zu essen, glücklich zu sein. Es zerstört das Wertvollste in mir: meine ‚Menschlichkeit‘, das heißt das unbezwingbare Bewusstsein der ontologischen (seinmäßigen) Einheit aller menschlichen Wesen…
Diese ‚Werte‘ sind potenziell universell, weil sie konstitutiv für den Menschen sind.“ (Jean Ziegler, Ändere die Welt, S. 258)

Der andere ist immer der Spiegel, in dem ich mich selbst erkenne, der mir zeigt, wer ich bin oder wieder werden und sein kann. Und protestantisch weiterführend: Gott ist kein Besitz einzelner Religionen.
Zu ihm gibt es die unterschiedlichsten kulturellen und menschlichen Zugänge. Transzendent ist er jedem Menschen immanent und heiligt ihn dadurch. ( 1. Mose 1, 27 ; 1. Mose 2, 7 ; Dietrich Bonhoeffer) Damit gibt es Menschsein nur und ausschließlich in globaler Geschwisterlichkeit! Konkret lokal auf Deutschland bezogen, erweist sich die Humanität unserer Gesellschaft im Umgang mit der Würde der Armen. Hartz IV und Sozialrente sprechen Menschen ihre Würde und ihr Sein ab.

These III
Es ist Zeit für eine neue globale Ökumene.
Glaube ist kein statischer Besitz der christlichen Kirchen.
Wir lassen uns nicht mehr zu Sklaven der Angst machen.

Ökumene im klassischen Sinn von katholisch/evangelisch sich in der Wirklichkeit überholt und und muss sich weiten. Seit langem gibt es in den meisten Gemeinden jenseits der Vorbehalte weniger rückwärtsgewandten katholischen Bischöfe und Kardinäle ganz selbstverständlich eucharistische Abendmahlsgemeinschaft. Notwendig ist eine globale Ökumene, die aus dem engen christlichen Deutungs-Horizont heraustritt in offener freier Begegnung mit dem Islam und den Weltreligionen. Die die Herausforderung ernsthaft annimmt, dass es nur einen Gott und eine universale Wahrnehmungsgeschichte dieses Gottes gibt, zu der alle Religionen als unterschiedliche Gedächtnisspuren gehören. (Klaus-Peter Jörns, Notwendige Abschiede, S.353ff.)

Angesichts einer sich primär fatalistisch ökonomisch vollziehenden Globalisierung könnte das eine die Menscheit wirklich verbindende Kommunikation werden, eine neue globale Wir-Identität des Menschseins im Wissen um die Heiligkeit jedes einzelen Lebens.
Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit gibt es nur Miteinander.!
Im Vertrauen darauf, dass „Gott die Ökumene der Religionen konstitutiert, indem er sich zu den Menschen in Beziehung setzt und von ihnen wahrnehmen lässt, ja, sich diesen Wahrnehmungen preisgegeben hat und weiter preisgibt.“
(Klaus-Peter Jörns, Notwendige Abschiede, S. 357)

Glauben ist nicht statischer Besitz der christlichen Kirchen. Er lebt im Beziehungsgeschehen zwischen Menschen und Gott im Kontext
geschichtlicher (Tradition) und kultureller, gesellschaftlicher Entwicklung. Die erstarrte Reduzierung von urchristlichem jesuanischem Glauben auf Dogmen (katholische Kirche) und Lehrsätzen (Evangelische Kirche) hat zu einer großen Entfremdug des modernen Menschen von Kirche geführt. Nötig ist eine moderne selbtsbewusste Kirche, die Menschen in ihrem Bedürfnis nach Sinn und Spiritualität und Lebensbezug des Glaubens wahr- und ernstnimmt und sich darin kommunikativ selbst erneuert. „Das Gesetz ist um des Menschen willen da, und nicht der Mensch um des Gesetzes willen.“ (Markus 2, 27)

Angst ist ein Herrschaftsinstrument.
Menschen, die sich Angst machen lassen, sind beherrschbar.

Damit arbeiten Parteien wie die AfD. Die jesuanische Botschaft befreit davon. „Fürchtet euch nicht!“ ist die Botschaft der Engel zu Weihnachten und Ostern. Weil Leben in seiner individuellen Kostbarkeit unzerstörbar ist. Sophie Scholl mit ihren Freunden der Weißen Rose, James Graf von Moltke mit dem Kreisauer Kreis, Dietrich Bonhoeffer, Martin-Luther-King, alles wunderbare Protestant:innen sind ermutigende Zeug:innen dafür, dass wir frei von Angst für das Leben einstehen können. Mehr denn je, ist das heute gefordert. Gut, dass wir uns in vielen katholischen und evangelischen Kirchengemeinden dem Bundesinnnenminister widersetzen und trotz schwerer Sanktionen Menschen vor gnadenloser Abschiebung durch Kirchenasyl in Schutz nehmen.

So lebt Kirche heute an der Seite derer, die keine Chance auf Leben und Zukunft haben.

Pfarrer Hans Mörtter

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Reformation II – Verbrennung der Playmobile
Ab dem 27. Oktober 2017 wurde stündlich ein Playmobil-Luther zu einem Buchstaben eingeschmolzen. Aus jeder Stadt traf dann ein Foto von dem Buchstaben ein und alle 95 ergeben dann die These.
Fotos: 1. Deutsches Stromorchester

27.10.2017 · 13h · Fiumicino

27.10.2017 · 14h · Üdingen

27.10.2017 · 15h · Rom

27.10.2017 · 16h · Urft

27.10.2017 · 17h · Nemi

27.10.2017 · 18h · Eschweiler

27.10.2017 · 19h · Inden

27.10.2017 · 20h · Nordausques

27.10.2017 · 21h · Scheven

27.10.2017 · 22h · Calais

27.10.2017 · 23h · Hürth

27.10.2017 · 24h · Rely

28.10.2017 · 01h · Aegidienberg

28.10.2017 · 02h · Neuville-Saint-Vaast

28.10.2017 · 03h · Köln

28.10.2017 · 04h · Belfast

28.10.2017 · 05h · Arnhem

28.10.2017 · 06h · Radolfzell

28.10.2017 · 07h · Emmerich

28.10.2017 · 08h · Neudingen

28.10.2017 · 09h · Aerdt

28.10.2017 · 10h · Castlebellingham

28.10.2017 · 11h · Hersel

28.10.2017 · 12h · Stabannan

28.10.2017 · 13h · Troisdorf

28.10.2017 · 14h · Eigeltingen

28.10.2017 · 15h · Nijmegen

28.10.2017 · 16h · Warrenpoint

28.10.2017 · 17h · Überlingen

28.10.2017 · 18h · Rheindorf

28.10.2017 · 19h · Dublin

28.10.2017 · 20h · Elsdorf

28.10.2017 · 21h · Münster

28.10.2017 · 22h · Ivry sur Seine

28.10.2017 · 23h · Troisdorf

28.10.2017 · 24h · Rosny-sous-Bois

29.10.2017 · 01h · Engen

29.10.2017 · 02h · Sankt Augustin

29.10.2017 · 02/03h · Paris

29.10.2017 · 03h · Erpel/Rhein

29.10.2017 · 04h · Köln

29.10.2017 · 05h · Troisdorf

29.10.2017 · 06h · Venusberg

29.10.2017 · 07h · Overath

29.10.2017 · 08h · Liverpool

29.10.2017 · 09h · Limburg

29.10.2017 · 10h · Sandbach

29.10.2017 · 11h · Taufkirchen

29.10.2017 · 12h · Essington

29.10.2017 · 13h · Rully

29.10.2017 · 14h · München

29.10.2017 · 15h · Estrées-Saint-Denis

29.10.2017 · 16h · Neubeuern

29.10.2017 · 17h · Saint-Quentin

29.10.2017 · 18h · Chieming

29.10.2017 · 19h · Hordain

29.10.2017 · 20h · Edling

29.10.2017 · 21h · Nivelles

29.10.2017 · 22h · Lisbon

29.10.2017 · 23h · Ixelles

29.10.2017 · 24h · Esslingen

30.10.2017 · 01h · Brüssel

30.10.2017 · 02h · Esslingen

30.10.2017 · 03h · Uerdingen

30.10.2017 · 04h · Neuss

30.10.2017 · 05h · Düsseldorf

30.10.2017 · 06h · Garching

30.10.2017 · 07h · Radolfzell

30.10.2017 · 08h · Eizer

30.10.2017 · 09h · Neumarkt

30.10.2017 · 10h · Zürich

30.10.2017 · 11h · Eltingen

30.10.2017 · 12h · Nürnberg

30.10.2017 · 13h · Ludwigsburg

30.10.2017 · 14h · Oświęcim

30.10.2017 · 15h · Stuttgart

30.10.2017 · 16h · Esslingen

30.10.2017 · 17h · Stuttgart

30.10.2017 · 18h · Tübingen

30.10.2017 · 19h · Ehningen

30.10.2017 · 20h · Mönchengladbach

30.10.2017 · 21h · Gerlingen

30.10.2017 · 22h · Rheydt

30.10.2017 · 23h · Unna

30.10.2017 · 24h · Noithausen

31.10.2017 · 01h · Dortmund

31.10.2017 · 02h · Viersen

31.10.2017 · 03h · Erkelenz

31.10.2017 · 04h · Rommerskirchen

31.10.2017 · 05h · Tönisforst

31.10.2017 · 06h · Rodenkirchen

31.10.2017 · 07h · Au

31.10.2017 · 08h · Au

31.10.2017 · 09h · Eitorf

31.10.2017 · 10h · Nippes

Für uneinschränkbare Nächstenwürde mit respektvollster Menschenliebe und grenzenlosestem Grundvertrauen

EINE GLAUBENSREFORM, DIE GOTT INS LEBEN ZURÜCKHOLT

Als Pfarrer Hans Mörtter anlässlich des 500jährigen Luther-Jubiläums im Oktober die Reformation II ausrief, versprach er, dass dies erst der Anfang gewesen sei. Mörtter sieht die Notwendigkeit, unsere Zukunft reformatorisch neu zu gestalten, wozu auch eine globale Perspektive gehöre. Nun hat er einen hochkarätigen Mitstreiter eingeladen: Der Theologe und Soziologe Klaus-Peter Jörns (1939 in Stettin geboren) ist Mitbegründer der „Gesellschaft für eine Glaubensreform“ und Autor mehrerer Bücher, darunter „Notwendige Abschiede – Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum“, das 2017 in sechster Auflage erschien. Darin postuliert er eine neue Theologie im Gegensatz zur ständigen Wiederholung alter Denkmuster.

 

UNVERLIERBARE LIEBE


Ich hätte nie gedacht, dass es dazu kommen würde, dass wir zwei nebeneinandersitzen. Als junger Theologiestudent stieß ich auf ein Buch von Klaus-Peter Jörns über Selbstmord. Das war damals für mich eine große Befreiung, weil es jemanden gibt, der anders denkt, der frei denkt, der gegen den Strich und gegen den Mainstream denkt und damit eine neue Wirklichkeit setzt. Klaus-Peter Jörns, vielen Dank, dass Sie mich damals auf den Weg gebracht haben und bis heute nach Ihren Überzeugungen handeln. Wie sind Sie auf den Weg zum kritischen Denker geraten? Sie hätten ja auch ein braver Professor werden können, der gehorsam ist und in den Systemen bleibt und denkt. Aber das haben Sie gerade nicht getan.

Vielen Dank für die Einladung, Herr Mörtter. Es gibt da mehrere Impulse, einer ging zuerst von meiner Mutter aus: Von ihr habe ich gelernt, dass es unverlierbare Liebe als Wirklichkeit gibt. In allem, was ich Gutes oder nicht Gutes gemacht habe, ist meine Mutter mir treu geblieben, als diejenige, die mich begleitet und getragen hat. Das war eine ganz wichtige Erfahrung, gerade durch die Zeit der Flucht hindurch und des Neuanfangs nach dem Krieg, wo es wirklich schwierig war, auch diese Flüchtlingsrealität zu erleben. Denn plötzlich wurden wir als „Pollacken“ bezeichnet, nachdem wir aus Stettin in den Westen gekommen waren. Dagegen war diese Erfahrung, geliebt zu sein, eine wunderbare Kraft. Diese Erfahrung hat es mir später glaubwürdig sein lassen können, dass Gott Liebe ist, dass es etwas gibt, was sich nicht berechnen lässt, was trotzdem da ist und einen trägt. Das war das Eine. – Na ja, und ich habe viel Religionsgeschichtliches gelesen. Mein Vater hat mir zur Konfirmation in der Kartäuserkirche ein Buch mit religionsgeschichtlichen Texten aus aller Welt geschenkt, und das war eine Fundgrube für mich, in die hinein ich dann eigentlich die später theologisch gelernten Dinge einbetten konnte; denn der Rahmen war schon da: Ich habe schon gewusst, dass es andere Religionen gibt und dass Religion etwas ist, was die ganze Menschheit von Anfang an begleitet. Es ist nicht so, wie uns immer weisgemacht wurde, dass Gott praktisch erst sein Herz für die Menschheit entdeckt habe, seit es Juden und Christen gibt. Das war längst vorher so. Später zeigte sich durch das Studium, dass eben das, was wir als jüdisches und christliches Gedankengut haben, zu 80 Prozent aus anderen Quellen stammt, die vorher da waren. Das hat mich sehr viel gelassener gemacht im Studieren der Texte, die wir in der Bibel haben. Ich konnte den großen Strom der Religionsgeschichte sehen. Dieses Geschenk war einfach eine schöne, weise Tat meines Vaters.

Hat es dann nicht schon mal Ärger gegeben mit den Kirchenleitungen, dass Sie sich hier auf seltsamen Pfaden bewegen?

Danach hat mich im Studium niemand gefragt.

Genau, klar, das ist ja eine freie Universität, die Bildung und das Studium sind frei und nicht in der Hand unserer Kirchen und erlauben so das freie Denken.

Es gibt noch andere Impulse. Ich wurde Pfarrer, arbeitete zehn Jahre als Dorfpfarrer, stand jeden Sonntag und Feiertag am Altar und schaute immer auf dieses Kruzifix, auf diesen leidend dort Hängenden. Allmählich wurde ich mir immer klarer darüber, wie dieser Tod eigentlich zustande gekommen ist, nämlich dadurch, dass Jesus das Gottesbild seiner Umgebung und Tradition revolutioniert hat. Dieses alte Gottesbild wollte von den Menschen etwas haben, stellte Forderungen nach Vollkommenheit an sie, die sie im Grunde nicht erfüllen können. Das hat Jesus nicht mehr akzeptiert. Er hat die Menschen nicht mehr danach bemessen, wie viele Gebote sie einhalten, sondern er hat Menschen nach dem bewertet, was sie an Sehnsüchten haben – nach Frieden untereinander, nach Gerechtigkeit, und was sie dafür tun. Deswegen hat unser schöner Heiland gesagt: „Kommt alle her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ Ein kluger Theologe hat mal gesagt: „Damit sind alle die Religionsgeschädigten gemeint, alle Leute, die unter den Forderungen des als Herrschaftsinstrument missbrauchten Gottes gelitten haben.“ Und da kam Jesus und hat begriffen: Das Leben ist schwer, gerade wenn man gut sein will. Es ist unendlich schwer, und das schafft keiner perfekt. Und mit denen, die daran leiden, paktiert er und nimmt die Ansätze des Guten schon mal für das Ganze, was sie wollen; und darauf aufbauend haben sie auch eine Chance.

Es geht dann um Freisetzung, das ist das Jesuanische.

Ja.

Solange ich das Gefühl habe, als Mensch defizitär zu sein, solange bin ich abhängig und brauche den gnädigen Gott, der sagt, ist gar nicht so schlimm, aber da wirst du nie im Leben herauskommen, deswegen brauchst du mich.

Ja, ja. Aber das ist gar nicht so einfach zu akzeptieren, dass wir und alle anderen einander im Leben vieles schuldig bleiben und gegenseitig auf Vergebung angewiesen sind. Wir wären ja lieber perfekt. Vom Herzen her macht das einem keine Lust zu glauben. Aber die kommt, wenn man von Jesus lernt, dass wir ‚kleinen Lichter‘ die Vollmacht haben, einander Schuld zu vergeben. Dadurch sind wir „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“! Aber auch dadurch, dass wir in Gott Mann und Frau, Mutter und Vater, miteinander verbinden. Wenn man sagt, der Mensch ist nach Gottes Bild geschaffen, dann muss man dazu bedenken, dass Gott ihn als Mann und Frau geschaffen hat. Demnach ist Gott auch Mann und Frau. Ist ja eine einfache Logik, wenn da in der Bibel steht: Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde und schuf sie als Mann und Frau. Und das heißt: In Gott ist alles; und damit sind wir heraus aus dieser fürchterlichen Identifizierung von Gott und Mann – bis in den Himmel hinein. Das ist überhaupt eine der furchtbaren Leidenschaften von Theologie, irdische Verhältnisse in den Himmel zu transportieren, und wo auf Erden die Grenzen verlaufen, auch im Himmel Grenzen anzusetzen. Denn die Grenzziehungen – vor allem zwischen den Religionen – sind es letztlich, die für Streit, für Konkurrenz, für Ärger sorgen und auch für Kriege. Dazu gehört auch das, was Sie in Ihrem Papier zur Reformation II gesagt haben: Es fehlt die Ökumene der ganzen Menschheit. Was wir an Ökumene haben, das ist im Grunde nur ein innerchristliches Unternehmen zwischen Katholik:innen und Evangelischen. „Ökumene“ heißt aber „die bewohnte Welt“! Davon sind wir weit entfernt. Zumindest alle Religionen gehören in die Ökumene. Eine ökumenische Theologie müsste deshalb eine sein, die auch die heiligen Schriften der anderen Religionen mit in den Blick nimmt und sagt, dass wir eine Fülle an religiösen Schätzen haben, die wir für die ganze Menschheit versuchen nutzbar zu machen.

Wir haben in Köln den Rat der Religionen, insgesamt haben wir 138 Religionsgemeinschaften in Köln, das ist schon der Wahnsinn. Es sind ganz kleine Gruppen dabei und es gibt größere Gruppen, die sich regelmäßig treffen. Nur die haben ein Problem: die kriegen nichts zusammen hin, weil jeder sich selbst für wichtig hält, in unterschiedlicher Form, und so blockieren sie sich auch gegenseitig. So kommt keine Innovation zustande, da muss der göttliche Geist anders dazwischenfunken.

Aber das gibt es ja schon. Es gibt einen ganz anderen Umgang der Religionen miteinander. Unsere Gesellschaft für eine Glaubensreform fördert einen Gedanken, wie er in Bern realisiert worden ist: dieses „Haus der Religionen“, wo man sich nicht nur gelegentlich trifft, sondern wo alle in der Stadt Bern vertretenen Religionen unter einem Dach ein riesiges Haus gebaut haben. Jede/r hat dort seine kultische Stätte, aber sie haben einen großen Gemeinschaftsraum, und sie leben halt unter einem Dach. Das heißt, man kommuniziert auch täglich miteinander. Es ist eine wirklich neue Öffnung hin zum gegenseitigen Verstehen. Man teilt die Mahlzeiten, man lernt nicht nur die Kochrezepte kennen, sondern übers Essen auch die Kultur der anderen schätzen. Alles das transportiert sich erst, wenn man diese Lebenszusammenhänge mit einbezieht, und darum ist dieses Haus der Religionen in Bern eine einmalige Geschichte. Und der Clou ist: Finanziert haben das zum großen Teil die Stadt und der Kanton Bern, weil sie begriffen haben, wenn wir Integration wollen – der Menschen aus unterschiedlichen Völkern –, dann müssen wir bei den Religionen anfangen. So wird der Frieden gefördert.

In Köln werden wir zum Ende des Ramadan 2019, am 9. Juni, ein Festival der Religionen machen. Das planen wir seit anderthalb Jahren in kleinem Kreis und haben der Oberbürgermeisterin gesagt, das ist Chefsache. Wir wissen, dass wir langfristig planen müssen, damit das was wird.

Da müssen Sie die Berner Erfahrungen einbeziehen.

Bei denen haken wir nach. Das Fest der Religionen ist eine Bewegung, die es inzwischen schon in Berlin und London gibt. Sie nennt sich „faiths in tunes“ und Köln kommt jetzt dazu. Da entsteht gerade eine Vernetzung miteinander, auf die ich sehr gespannt bin. Nur so, im Miteinander der Religionen ist Frieden in Zukunft möglich.
Aber schauen wir doch mal auf eine grundsätzliche Frage. Es gibt die verbreitete Doktrin vom „Wort Gottes“, göttlich inspiriert festgeschrieben in den Heiligen Schriften. Das steht da, unumstößlich. Was ist das Wort Gottes?

Wort Gottes kann etwas nur werden, das ist es nicht. Es liegt auch nicht herum, sondern es trifft mich. Wenn mich ein Wort trifft und mir etwas erhellt, was ich bisher nicht durchschaut oder verstanden habe, wenn ich für mich plötzlich einen Weg sehe, wo keiner war, dann kann ein Wort aus Menschen Mund Gottes Wort werden, aber nicht festgeschrieben als religiöses Gesetz, das wiederum dann Glauben fordert. Gottes Wort schafft sich selber Glauben, indem es als solches erkannt wird, und dann kann man – weil man erkannt hat: das Wort hat mich getroffen, für mich ist das „eine Offenbarung“, sagen wir ja auch –, dann kann man sagen: Ja, das hat etwas mit Gott zu tun. Aber ich kann niemandem befehlen, einen Satz, der irgendwo in der Bibel steht, als Gottes Wort zu akzeptieren.

Gott ist immer Fluss, ist immer Bewegung, ist immer auch Geist, das ist nicht besitzbar. Das ist der Punkt.

Gottes Wort hat einen unmittelbaren Lebensbezug. Wenn Menschen aber das Gefühl haben, ein als „Gottes Wort“ bezeichnetes Bibelwort hat mit dem Leben nichts mehr zu tun, dann ist am besten erwiesen, dass eine schriftlich fixierte Überlieferung irgendwann einmal eine große Bedeutung hatte – das ist nicht bestritten – aber sie inzwischen verloren hat. Und weil die Kulturen, weil die Zeiten, die Lebensumstände, die Lebenserwartungen, Hoffnungen sich ändern, muss dann ein anderes Wort her, das mir in dieser Situation zum Wort Gottes wird. Die Reformatoren haben immer gesagt, Wort Gottes ist nicht das, was in der Bibel steht, sondern das gepredigte Wort, das ich höre, und das heißt, was ein Mensch auch wirklich bezeugt. Dann kann es diese Qualität übernehmen.

Es ist ein ständiges neues Suchen, Fragen, Begehren, aber auch jenseits von Machen, also auch überrascht werden.

Ja, natürlich. Und auch gestellt werden! Das gibt es natürlich auch, dass Gottes Wort, wenn man es plötzlich begreift, einem auch sagt: Halt, mein Lieber, hier ist Schluss, bis hierher und nicht weiter, das führt zu nichts oder eben zu etwas Fürchterlichem.

Oder auch: Weglaufen gilt nicht.

Oder so, jedenfalls klipp und klar.

RELIGION HAT ZU DIENEN, NICHT ZU HERRSCHEN


Sie haben im Mai in Wittenberg ein Gespräch mit Margot Käßmann geführt, wo es auch um Glaubensreform ging, um neue Ansätze. Margot Käßmann redete davon – die war da ja ganz offen auch, da bin ich ganz überrascht, wie schön das Gespräch war –, jedenfalls sagt sie, dass ihr der klassische Gottesdienst sehr wichtig ist. Das kennen wir schon gar nicht mehr hier, dann das Kyrie, das Gloria, ein Gebet, die Lesung, die Predigt, Fürbittengebet und Segen und fertig, Ende, aus. Da weiß man genau, wann Schluss ist oder wo man gerade ist. Das höre ich immer wieder, das gibt uns Sicherheit, weil wir das seit 500 Jahren so kennen. Ist das nicht auch gefährlich?

Ich verstehe das erst einmal als etwas, was aus einer gehetzten Seele kommt. Wenn man jemanden wie Frau Käßmann um die Erde jagt, um für das Reformationsjubiläum zu werben, dann kann ich mir vorstellen, dass sie richtig froh ist, wenn sie in einen Gottesdienst kommt und da läuft die Liturgie ab, wo sie gar nichts hinzutun muss, das steht alles fest, dann kann sie mal alle Sinne hängen lassen. Das ist einfach eine sehr angenehme Geschichte, und es hat auch mit Geborgenheit zu tun: Es sind die bekannten Klänge, und da ist man auch in einer geborgenen Atmosphäre. Aber wenn das alles ist, ist es natürlich zu wenig, das geht nicht. Dann wäre es ein Zustand, in den man hinein- und aus dem man auch einfach wieder herausgehen kann, oder sich sagt, ich mach mal ein kleines Seelen-Nickerchen. Aber Religion ist im Allgemeinen nicht dazu da, ein Nickerchen zu machen, sondern die Welt mit geschärftem Blick für die Not der Menschen zu sehen und dann auch etwas zu tun.

Aber nicht nur die Not, sondern dass vielleicht auch die Stärken spürbar werden.

Ja, natürlich.

Ich erinnere mich noch als Kind, wie fürchterlich das Abendmahl abging. Das war so mit hängenden Schultern, mit dem Kopf nach unten, und ich bin ja so schlecht und ich muss dafür büßen. Unsere ehemalige Küsterin sagte immer, ich kann gar nicht so viel sündigen, wie wir hier Abendmahl feiern und mir dabei alles vergeben wird. Dabei ist das doch etwas Schönes. Unser Kantor Thomas Frerichs spielt inzwischen einen Swing dabei mit anderen zusammen oder wir bewegen uns dabei in großem Kreis. Wir trinken richtig leckeren Wein, wir essen trockenes Brot und kauen es, halten uns die Hände, stehen zusammen und nehmen uns auch die Zeit dafür. Aber in der Abendmahlsliturgie kommt ja immer: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt …“ Ehrlich gesagt, ich fand die Melodie immer ganz schön, ich hab das gerne gesungen, bis ich merkte, wie daneben das ist. Ich sag kein anderes Wort dafür, es ist daneben, denn je mehr ich das singe, desto mehr Blei lastet auf meinen Schultern, und ich werde immer kleiner. Ich werde nach unten gedrückt, das zieht mich nach unten.

Man sieht’s ja auch in den Gesichtern.

Die sind nicht fröhlich.

Die Abendmahlsveranstaltungen sind eher Trauerfeiern. Doch eigentlich geht es beim Abendmahl überhaupt nicht um Sünde, das ist überhaupt kein Thema, das ursprünglich zum Abendmahl gehört hätte. Abendmahl ist die Feier der Lebensgaben Gottes – Brot und Wein, dafür steht es. Das sind die Grundlebensmittel, und zu diesen materiellen Lebensmitteln kommen die geistigen Lebensgaben hinzu, die man empfängt aus Literatur, aus dem Zusammenleben mit Menschen und aus der Jesus-Überlieferung. Das sollte im Gottesdienst gefeiert werden. Aber über den Weg der Sühnetheologie und über die Deutung des Todes Jesu als ein Sühnegeschehen ist dann diese Sündenvergebung in das Abendmahl hineingekommen, und dadurch ist es im Grunde verdreht worden, wirklich im Inneren verdreht worden. Diese Verdrehung besteht darin, dass man sich nicht über die Lebensgaben Gottes freuen kann, sondern dass man als armer Sünder da hingehen muss, um Vergebung zu bekommen. Das ist nicht die Kraft, die wir brauchen. Womit ich nicht sagen will, dass es keine Schuld gäbe oder dass das alles nicht wichtig wäre; natürlich ist das wichtig. Aber das Abendmahl ist nicht der Ort, wo es hingehört. Wir brauchen diese Lebensgaben, um Kraft zu bekommen, auch unsere Seele zu stärken und nach dem, was uns wichtig ist, zu leben – das stimmt.

Da ist die Kraft herausgenommen. Es geht darum, miteinander zu teilen und miteinander zu essen. Das ist etwas sehr Sinnliches, und es steht für etwas, was ich nicht erklären kann, dass es eine Kraft des Lebens gibt, die unzerstörbar ist, die zu mir gehört, wo wir nicht trennbar sind. Deswegen geben wir uns auch die Hände. Das ist gut. – Noch mal konkreter zur Opfertheologie: Wir haben hier ein Kreuz aus den 1960er Jahren. Wir müssen das immer wieder sagen, damit es wirklich jemand begreift, da hängt nicht der Gekreuzigte, sondern da hängt der Lebensweise, der Lebensspender, da hängt Zukunft, da hängt Neues, immer wieder Neues, immer wieder neu geboren, auch in uns, in uns hinein. Das ist es.

Natürlich. Andererseits muss man aber auch sagen, das Kreuz hat insofern auch mit dem Kruzifixus seinen Sinn, als es uns die Tragik, die sich durch die ganze Weltgeschichte hindurchzieht, vor Augen führt: dass nämlich oft genug diejenigen, die wirklich nur Gutes wollen und Gutes tun und wie Jesus den liebenden Gott gegen den strafenden gesetzt haben, nicht honoriert, sondern im Gegenteil umgebracht werden. Denn wenn man Religion so versteht wie Jesus, kann man sie nicht mehr als Herrschaftsinstrument benutzen, sondern nur in ihrer dem Leben dienenden Funktion. Das hat Jesus mit diesem wunderbaren Satz (bei Markus im zweiten Kapitel am Ende) zum Sabbat gesagt: „Der Sabbat ist für den Menschen gemacht und nicht der Mensch für den Sabbat.“ Wir sind keine Gebotserfüllautomaten, die willenlos alles machen, was von uns gefordert wird – das ist in Diktaturen so, die alles nach den Wünschen der Diktatoren dirigieren. Aber das gilt nicht für das, was Gott von den Menschen und für die Menschen will; denn Religion hat zu dienen und nicht zu herrschen.

Also lebensdienlich zu sein.

Ja.

In den ganzen Liturgien, besonders in der Passionszeit und ganz massiv am Karfreitag heißt es: Christus musste am Kreuz sterben und Gott seinen einzigen Sohn opfern, damit er uns Menschen lieben kann.

Da steht das Menschenbild im Hintergrund, das dem Menschen unterstellt, Gottes Feind zu sein, wie Paulus das tut, weil er noch nichts von unserer Herkunft aus der Evolution weiß. Wir können heute, nachdem wir von dieser Entwicklung wissen, auch wissen, woher wir kommen. Wenn man das weiß und miteinbezieht, kann man sagen, welche Erbschaften aus der Evolution wir mit und in uns schleppen: Jeder Mensch, ob er will oder nicht, hat im Grunde noch die wilde Natur in sich, die wir aus unserer tierlichen Vorexistenz haben. Unser Gedächtnis ist ein ursprünglich tierliches Gedächtnis; aber was dem Tier als gut erscheint, ist nicht mehr das, was später den Menschen als gut erscheint, und da liegt im Grunde der Hauptkonflikt. Wenn wir wissen wollen, wo dies immer wieder im Alltag auftaucht, dann müssen Sie nur an sich selbst als Autofahrer und Autofahrerin denken, wenn sie so schön geborgen in dieser Kiste sitzen und beschleunigt weit über Menschenmaß hinaus. Dann passieren manchmal Dinge, von denen man hinterher nicht mehr begreifen kann, warum man das gemacht hat. Doch sie lassen sich ganz einfach dadurch erklären, dass in bestimmten Situationen die uns leitende Schicht unseres Gedächtnisses und Bewusstseins abgesenkt wird auf eine frühere Stufe, und dann übernimmt die wilde Existenz wieder das Steuer. Also denken Sie beim nächsten Mal daran, wenn Sie jemanden fragen, wo er sein Auto abgestellt hat; dann fragen Sie bitte nicht mehr: Wo stehst du? Denn diese Identifizierung von Ich und Auto ist Ausdruck genau dieser neu-zentaurischen Existenz, wie Peter Sloterdijk einmal so schön gesagt hat: Wir sind Neu-Zentauern: der Unterbau ist Auto, der Oberbau Mensch, und in dieser Symbiose zu leben, das ist ein schwieriges Spiel. Aber genau diese Vermischung führt den Menschen aus seinen Möglichkeiten, sich selbst zu kontrollieren, heraus und lässt eine Ethik der Selbstbeherrschung zu einer ganz großen Notwendigkeit werden. Da wir das im Verkehr nicht so gut können, ist es wirklich allerhöchste Zeit, dass das Autofahren weitgehend automatisiert wird. (Raunen).

Genau, oder wir fahren einfach Fahrrad. – Ich will noch mal zur Sühneopfertheologie zurückkehren. Fakt ist: Gott ist niemand, der ein Opfer braucht, weil Gott Liebe ist, und Liebe ist bedingungslos. Das ist das Revolutionäre an Jesus von Nazareth, und deswegen war er so gefährlich – für die Systeme und die Machthaber der Zeit, und das geht bis heute so. Es geht um Ehrfurcht vor allem Leben, es geht um Albert Schweitzer, der mich auch sehr geprägt hat in meinem gedanklichen Wachsen und Reifen. Sie haben sich ja sehr intensiv mit einer verkorksten Schöpfungstheologie beschäftigt, die aus den Tieren Dinge macht.

Ja. Es gibt nach der Sintflutgeschichte nicht nur den schönen Regenbogen als ein Zeichen der Treue Gottes zur Schöpfung. (Nachdem Gott gerade alles vernichtet hat, fällt es allerdings schon schwer, das als glaubwürdig zu empfinden.) Sondern die Menschen sollen sich auch sicher fühlen, weil Gott ihnen sagt: „Furcht und Schrecken vor euch komme über alle Tiere“ – vor euch Menschen –, sagt Gott und vermasselt damit im Grunde das Verhältnis zwischen Mensch und Tier für alle Zeit, also jedenfalls für diese jüdisch-christliche Zeit. Denn es ist eine Schreckensherrschaft, mit der die Menschen mit ihren Mitgeschöpfen umgehen sollen. Für die jüdische Religion und ihren Tempelkult war diese Herrschaft über die Tiere wichtig, weil man ja opfern musste und wollte und dafür Opfertiere brauchte. Folglich musste man sie töten können, und dieses Recht ist an dieser Stelle im Grunde schon grundgelegt. Aber genau an diesem Punkt hat Albert Schweitzer unser Denken umsteuern wollen. Sein Satz „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ weist in eine andere Richtung. Er sagt schonungslos und tränenlos: Das Leben ist ein Dilemma. Denn er redet nicht nur von dem Lebenswillen, der das Leben vorantreibt, sondern auch von dem Schmerz, der aus der Erkenntnis kommt, dass alle Lebewesen von anderen Lebewesen leben – ob das Tiere sind oder Pflanzen – wir brauchen etwas, um uns zu ernähren, und für die Tiere gilt dasselbe. Wenn man in die Tierwelt hineinschaut, wie sich Tiere gegenseitig töten, ist das alles andere als schön. Das Leben ist ein System, in das das Töten hineingehört, und es gibt nichts, womit man dem entgehen könnte. Es gibt eine sehr einleuchtende Theorie von Opferforschern, wonach die Ursache von Opferhandlungen darin liegt, dass die Menschen wussten, dass sie kein Recht dazu haben, ihre Mitgeschöpfe zu töten, dass sie sich aber von ihnen ernähren müssen. Deshalb gaben sie den Göttern oder Herrinnen des Lebens einen Teil ihrer Nahrung als Opfer zurück. Und so haben sie ihre innere Not ausgedrückt zu wissen, dass das Leben uns nicht gehört und wir dennoch nicht daran vorbeikommen zu töten.

Sie geben dem Göttlichen etwas von dem, was sie zum Leben brauchen …

… wieder zurück. Das ist aber etwas anderes als ein Sühneopfer.

DIE MENSCHWERDUNG DER MENSCHEN

Ja, klar. Ich finde ganz interessant, wie sehr wir durch unser Verhalten Einfluss nehmen könnten. Beim Eierkauf kann man fragen, woher die kommen und ob da männliche Küken geschreddert werden. (Das sind 50 Millionen jeden Tag). Sucht so lange, bis ihr den Laden findet, dessen Bauer dieses Unrecht nicht verübt. So fängt der Widerstand an, wir können ihn täglich praktizieren, wenn wir das Gefühl und das Bewusstsein für dieses schreiende Unrecht haben, und wie wir uns als Menschen über das erheben und uns dann innerlich, körperlich, seelisch deformieren. Wir können Mechanismen vermeiden, die uns als Menschen, die wir aus Liebe heraus geboren sind, nicht entsprechen.

So ist das, genau. Man ist ja im Moment dabei, die Menschenrechte auch auf die Tiere zu übertragen, und das ist natürlich im Blick auf ein unbedingtes Lebensrecht ein sehr schwieriges Unterfangen: Wenn man den Tieren ein unbedingtes Lebensrecht zugestehen würde, dann dürfte generell nicht mehr getötet werden. Und da scheiden sich dann in den juristischen Lagern die Geister, ob die so weit gehen wollen oder nicht. Aber der erste Schritt, den wir vor einer solchen allgemeinen Erklärung der Tierrechte tun können, ist sicher, das Recht der Tiere auf eine wirklich artgerechte Haltung durchzusetzen. Da zeigt sich leider bei uns keine wirkliche Initiative. Ich habe nichts davon gelesen, dass in den Sondierungspapieren an diesem Punkt nun einmal Ernst gemacht würde. Nein, es wird immer palavert über diese Problematik, aber es wird kein entscheidender Schritt getan, weil Parteien und die Massentierhaltungslobby irgendwie – d. h. über ihre wirtschaftlichen Interessen – miteinander verbandelt sind, und dann passiert eben gar nichts.

Genau, und das Fleisch muss sogar noch billig sein.

Dann kommt die nächste Seuche, und dann werden auf einen Schlag 10.000 Tiere getötet, weil sie eben in einer solchen Riesenhalle vor Ansteckung überhaupt nicht bewahrt werden können. Natürlich könnte man die Tierhaltung anders organisieren, in sehr viel kleineren Betrieben und Ställen, aber nicht in solch riesigen Betrieben.

Die Position des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen kritisieren Sie in der Gesellschaft für eine Glaubensreform. Es geht da um Gottes Ebenbürtigkeit?

Ja. – Übrigens nebenbei: Wir suchen noch jede Menge Mitglieder. Am Ausgang liegen Flyer, die Sie mitnehmen können. – Ja, die Veränderung des Menschenbildes ist die entscheidende Aufgabe, an der wir arbeiten müssen, wenn wir den Lebensbezug für den Glauben wieder herstellen wollen. Für mich ist in diesem Zusammenhang, und weil wir kürzlich Weihnachten gefeiert haben, eines sehr wichtig: Weihnachten feiern wir die Geburt des Einen, der im Grunde wieder in die Rolle hineingesteckt worden ist, messianischer König Israels zu sein, auf den sich alle Hoffnungen richteten. Wenn Sie bei Jesus nachlesen, dann finden Sie aber das unglaublich Andere: Jesus hat den Titel „Sohn Gottes“, wenn Sie einmal Matthäus 5,9 angucken, hier nicht im Singular und auf sich allein bezogen verwendet, sondern in den Plural setzt. Das ist eine unglaubliche Geschichte, dass auf einmal alle, die Frieden stiften, Söhne Gottes genannt werden. Wenn man das Griechische kennt, weiß man, dass die maskuline Form „Söhne Gottes“ auch die feminine Realität mit einschließt. Also kann man zu Recht übersetzen: Diejenigen, die Frieden stiften, die „Friedenspoeten“ sind, wie es im Text heißt, die sind alle Söhne und Töchter Gottes. Das ist eine gewaltige Veränderung gewesen in der Religionsgeschichte, dass sich die Hoffnung nun nicht mehr nur auf den Einen richtet, nicht mehr alle auf den Einen warten, der kommt und es schon richten wird, sondern dass alle in die Verantwortung für dieses Leben und für die Zukunft einbezogen werden. Eine bessere Zukunft hängt an dem, was alle gemeinsam tun. Das ist eine unglaubliche Geschichte. Jede/r hat seine/ihre Aufgabe, egal ob groß oder klein oder Mann oder Frau oder was auch immer man an Differenzierungen nehmen will. Jede/r hat mit seinen/ihren Gaben daran Anteil – und wenn’s auch nur Gedanken sind, die sich nicht realisieren lassen, aber als Hoffnungen sind sie auch Antriebe, Energien, die vorantreiben, auch im evolutionären Sinn. Dann haben sie teil an einer Verbesserung der Welt, die man aber auch mit einem einfachen Wort „Menschwerdung der Menschen“ nennen kann. Denn die Menschwerdung der Menschen ist noch nicht abgeschlossen, sie geht weiter. Das lässt mich im Übrigen auch nicht verzweifeln, wenn ich den Fernseher anmache und diese ständige Katastrophenschau ansehe, die abends über alle hinweggeht. Das ist noch nicht der Endpunkt, wir haben noch andere Möglichkeiten, die wir aber nur kooperativ entwickeln können und nicht die einen gegen die anderen. Da müssen wir heraus.

Ich sehe das bei den jungen Leuten, bei den 20- bis 28-Jährigen, dass da ganz viel im Umbruch ist, ganz viel passiert. Ich bin sehr, sehr froh, das beobachten und daran teilhaben zu können, ermutigen zu können, weil es mich selbst auch ermutigt, dass da wieder neue Bewegung in unserem Land in der jungen Generation ist. Das gab es lange nicht, und nun wird wieder neu nach Ethik und Werten gefragt. Das nehme ich einfach wahr, und das ist fantastisch. Eine ganz besondere Geschichte. – Es gibt einen jesuanischen Satz, der immer wieder Schrecken hervorruft. Er steht im Johannes-Evangelium: Wahrlich, ich sage euch, das, was ich getan habe, werdet ihr auch vollbringen, und ich sage euch, ihr werdet noch Größeres tun als das. Das ist eine Beauftragung, eine Bevollmächtigung, ihr könnt das, weil ihr alle Söhne und Töchter Gottes seid, und ihr seht an mir, Jesus, wohin das führt, nämlich in die Weite, ins Leben durch die Zerstörung hindurch. Die Zerstörung siegt nicht. Also geht und sucht das Leben immer wieder neu.

Dazu könnte man Amen sagen.

Es geht gar nicht anders, wir müssen politisch sein, weil es um Leben geht. Die politische Dimension unseres Glaubens oder der jesuanischen Ansage, die ist doch wirklich ganz klar mit dem Recht auf Leben.

Heil ist nichts, was unter Absehen vom Leben formuliert werden könnte. Man kann es natürlich tun, indem man einen Himmel über uns einzieht, in dem angeblich das eigentliche Leben spielt. Aber den haben wir inzwischen aufgegeben und begreifen, dass Heil und Himmel etwas ist, was in irdischen Zusammenhängen für Menschen erlebt und von ihnen auch mitgestaltet werden kann. Insofern ist dies unsere Aufgabe, und dazu gehört Politik. Ohne Politik, ohne Eingriff in die Sozialstrukturen, ohne Eingriff in die Verhältnisse der Geschlechter, der Völker untereinander kommen wir nicht weiter, sondern drehen uns weiter um die alten Probleme. Die sind schon in der Evolution der frühen Menschen zum Teil verhängnisvoll gewesen. Es gab irgendwann Gruppen, die den Egoismus der Einzelnen und der Einzelfamilien überwanden, indem sie in die Kooperation geführt und die Menschen miteinander verbunden wurden. Aber es hat sich dann sehr schnell herausgestellt, dass diese Gruppen wieder, wo es um ihre gemeinsamen Interessen geht, wie Individuen handeln, sehr egoistisch sind, und darüber sind wir immer noch nicht hinaus. Jetzt werden in Europa wieder die Nationalitäten hochgespielt, als wenn das heilige Güter wären; es wird die Gewaltenteilung abgeschafft, damit der Nationalismus, das Wir-Gefühl wie in „America First“ und was weiß ich alles, ausgelebt werden kann. Vor kurzem hat die CSU in Bayern auch schon Wahlplakate geklebt, auf denen „Bayern zuerst“ stand … (Gelächter). Das ist wieder der Rückfall in die Nicht-Kooperative. Was wir brauchen, ist das Gegenteil, und da muss Religion etwas tun, indem sie selbst begreift und lehrt, dass die Menschheit, wenn das Reden von Gott überhaupt einen Sinn haben soll, nur als Ganzheit verstanden werden kann. Nicht einmal das reicht aus, denn wir können ja auch nicht unsere Menschheit und unser Menschsein auf Kosten der anderen leben, indem wir deren legitime Rechte nicht achten. Wir müssen diese Ehrfurcht vor dem Leben – damit sind wir wieder bei Albert Schweitzer – viel, viel ernster nehmen und in die Politik hineinbringen. Dazu hört man aber von den Kirchen leider wenig. Es ist eben das Trauerspiel, das ein indischer Freund mir gegenüber einmal beklagt hat, der zwei Jahre in einem evangelischen Predigerseminar gearbeitet hatte und dann wieder nach Indien zurückgegangen ist: „Ihr seid eine Kirche, die sich im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt, und die Welt hat überhaupt nichts davon!“ Das sind Dinge, die wir noch nicht ernst genug nehmen. Worüber in den Kirchen gestritten wird, das ist im Grunde, und das heißt gemessen an den Belangen des Menschseins und des Leidens und der Leidensüberwindung, wirklich belanglos.

Das ist unsere gnadenlose Welt, und ich finde, das darf nicht sein. Das passt nicht zusammen mit dem Gott, der Liebe ist. Da ist eine andere Richtung angesagt. Das haben Sie doch gesagt: Jeder Mensch hat ein Recht auf das, was er zum Leben braucht. Das ist eine wichtige Ansage.

So ist es. Nicht, was er verdient, sondern was er braucht.

Genau, und wir sagen immer, der ist doch selber schuld – der Obdachlose, der Arbeitslose, der Flüchtling, soll er doch selber gucken, wie er klarkommt. Das ist nicht gut, und es geht anders. Deswegen haben wir die Reformation II ausgerufen und den Luther eingeschmolzen, die Playmobilfigur. Jetzt haben wir so richtig Fahrt aufgenommen und legen los. Das sind 95 Figuren, die wir eingeschmolzen haben, europaweit. Das Denkmal ins Fließen bringen, damit wir neu in Bewegung geraten. Das ist ein Kunstobjekt, und einen „Luther“ davon bekommen Sie geschenkt, weil Sie einer von denen sind, die Dinge in Bewegung bringen und uns zum Nachdenken anregen. Deswegen passt diese Form von Luther gut zu Ihnen. Danke, Herr Jörns!

Danke!

Ich halte die Gesellschaft für eine Glaubensreform für sehr wichtig, also werde ich jetzt auch Mitglied. Das hatte ich schon lange vor. Es ist wichtig, dass wir anders denken und das unter die Menschen bringen. Es ist längst Zeit. Danke euch für die Geduld!

Redigiert von Helga Fitzner und nachbearbeitet von Klaus-Peter Jörns

Klaus-Peter Jörns stellt sich vor

 

„Die Kölner Südstadt ist mir gut bekannt: 1951 ist meine Familie in die Kaesenstraße gezogen, 1954 bin ich in der Kartäuserkirche konfirmiert worden, und von 1964 bis 1966 war ich Vikar im Kirchenkreis Köln-Süd in Brühl. Von 1968 bis 1978 war ich rheinischer Pfarrer in einer Hunsrückgemeinde. Ab 1978 habe ich Vikar.:innen ausgebildet und von 1981-1999 in Berlin Praktische Theologie und Religionssoziologie gelehrt. So bin ich Schritt um Schritt hineingewachsen in das theologische Denk- und kirchliche Glaubenssystem. Doch als ich darin ‚angekommen‘ war, war es mir schon zu eng geworden, und ich suchte Wege nach außen. Geholfen haben mir dabei vor allem meine Frau, die mir als Psychoanalytikerin neue Perspektiven und damit eine Innenbetrachtung des kirchlichen Betriebes eröffnete, und meine Neugierde, die mich zu Ausflügen in andere Wissenschaften ermunterte und zu Engagements in sozialen Aktionen. In den letzten Jahren beschäftigt mich die Arbeit an dem Projekt, die Erkenntnisse der biologischen, kognitiven und kulturellen Evolution in die Theologie einzubringen und dadurch vor allem das Menschenbild zu verändern. Wenn es denn so ist, dass wir unsere tierliche Herkunft nicht hinter, sondern bleibend in uns haben, und dass die Evolution weitergeht, dann ist der gegenwärtige Zustand der Menschheit keinesfalls als Endpunkt der Menschwerdung anzusehen, sondern als Station auf dem Wege dahin. Alle Erwartungen an uns, hier und heute vollkommen „human“ und liebevoll zu sein, übersteigen dann aber unsere Möglichkeiten. Und die am Beginn jedes normalliturgischen Gottesdienstes geübte Praxis, uns erst einmal als Sünder anzureden, die nur deshalb ein Lebensrecht haben, weil Jesus für unsere Sünden gestorben sei, verbiegt unsere Seelen. 2012 habe ich mit anderen zusammen die „Gesellschaft für eine Glaubensreform“ (glaubensreform.de) gegründet, die helfen will, die längst fälligen Veränderungen an unseren Glaubensvorstellungen vorzunehmen. Hans Mörtter erscheint mir dabei ein ’natürlicher‘ Verbündeter zu sein.“
Klaus-Peter Jörns

JÖRNS‘ „ABSCHIEDE“ UND DIE LUTHERKIRCHE

Jesus Christus sei durch unsere Glaubensvorstellungen eingesponnen worden wie eine Schmetterlingspuppe, meint Klaus-Peter Jörns in seinem Buch „Notwendige Abschiede – Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum“. Das Christentum könne nur zu sich selbst finden, wenn es diesen Kokon verließe, wobei es sich aber um keine Zerstörung handele, sondern um die Metamorphose in einen Schmetterling, der sich von seinen selbst gewählten Fesseln befreie.

In dem viel beachteten Werk, das 2017 in sechster Auflage erschien, erläutert Jörns detailliert sehr komplexe Zusammenhänge, die sich nur sehr verkürzt zusammenfassen lassen. Wir wollen deshalb nur ein paar Schlaglichter auf Aussagen werfen, die nicht unbedingt den von Jörns gewählten Schwerpunkten entsprechen, aber Bezug zur Arbeit der Lutherkirche haben und für theologische Laien von Interesse sein könnten.

Pfarrer Hans Mörtter rief am 31. Oktober 2017 die „Reformation II“ aus, damit – um in Jörns‘ Bild zu bleiben – der Schmetterling seine Flügel ausbreiten kann. Das ist aber nicht der Beginn, sondern ein Wendepunkt in Mörtters Arbeit, die er seit rund 30 Jahren ausübt. Für den Schmetterling ist es eine ungeheure Kraftanstrengung, sich aus seinem Kokon zu zwängen, doch die ist nötig, damit er tragfähige Flügel bekommt. Es sieht so aus, als ob wir in der spannenden Zeit leben, in der wir Zeuge dieser Umwandlung sein können.

THEOLOGIE MUSS DEM GLAUBEN DIENEN UND NICHT DER GLAUBE DER THEOLOGIE“

Abschied 1
Das Christentum sei keine Religion wie die anderen Religionen
Das Christentum hat nach Jörns‘ Ausführungen keine Sonderstellung, sondern ist aus einer pluralistischen Kultur entstanden und immer Teil einer solchen gewesen. Es ist keine „kulturunabhängige Sonderwelt“, sondern von der Geschichte gestaltet worden und hat diese gleichzeitig mitgeprägt.

Abschied 2
Die Bibel sei unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung entstanden
Die kanonischen (als unveränderbarer Bestandteil der Bibel festgelegten) Texte und Riten gehen auf die „soziokulturellen Standards“ ihrer Entstehungszeit zurück. „Es gibt nicht die Theologie des Alten und Neuen Testamentes, sondern eine Vielfalt von Theologien und Anthropologien, die der jüdisch-christliche Doppelkanon (von Altem und Neuen Testament) unter seinem Dach zusammenhält… Dieser Kanon hat einerseits in sich sehr unterschiedliche religiöse Vorläufertraditionen aufgenommen, und hat andererseits in den Koran hineingewirkt.“ (S. 117f.) Die Bibel wurde vom Aramäischen ins Griechische (genauer gesagt in die überregionale Gemeinsprache Koiné) übersetzt, also von einer Sprache des afroasiatischen Sprachraums in eine indogermanische. Europa war damals vom (spätgriechischen) Hellenismus geprägt, es handelt sich also um sehr unterschiedlich gewachsene Kulturkreise. Um diese Übersetzung leisten zu können, war eine „kulturelle Transformation“ notwendig. „Denn die kulturellen Übergänge haben erhebliche Bedeutungsverschiebungen von Begriffen und ganzen Vorstellungen mit sich gebracht“. (S. 135). (Eine weitere solche kulturelle Transformation fand statt, als Martin Luther Jahrhunderte später die Bibel vom Griechischen ins Deutsche übersetzte).

Das Neue Testament ist etliche Jahre nach Jesu Tod entstanden, es wurde also aus der Erinnerung heraus geschrieben; auch Paulus verfasste seine Briefe um die 30 Jahre nach Jesu Tod. Bei Jörns heißt es unmissverständlich: „Kein biblischer Text ist kodifiziertes ‚Wort Gottes’“, und er mahnt Kirche und Theologie zur Zurückhaltung, ihre eigenen Aussagen und Handlungen „mit Gottesworten zu autorisieren“. (S. 140). Dann verallgemeinert er das: „Alle heiligen Schriften sind sekundäre Erinnerungsgestalten Gottes.“ (S. 141). Für ihn ist die „Schriftreligion“ des Christentums ein Irrweg, denn auf der Suche nach Wahrheit in dogmatisierten Interpretationen der Bibel hätten wir verlernt, eigene Gotteserfahrungen zu machen und ein auf Gott vertrauendes Leben zu führen.

Abschied 3
Ein einzelner Kanon könne die universale Wahrnehmungsgeschichte Gottes ersetzen
In diesem Kapitel erläutert Jörns die Einflüsse bereits vorhanden gewesener religiöser Kulte und Praktiken, darunter die ägyptischen Triaden (Osiris-Isis-Horus) und die Rolle des Pharaos als Vermittler zwischen Mensch und Gott. Besondere Erwähnung findet Asklepios, der griechische Gott der Heilkunst, im Vergleich zu den Heilungsgeschichten Jesu.

Jörns führt viele Beispiele von Einflüssen an, die auf die Erzählart und Vorstellungen der biblischen Texte eingewirkt haben. Durch die Kanonisierung und Dogmatisierung (die Festschreibung, was als wahr und relevant gilt) entzog sich die Bibel einer Weiterentwicklung und Anpassung, sodass sie heute von theologischen Laien nicht mehr selbständig interpretiert werden kann und dadurch auf die Auslegung durch die Kirche angewiesen ist. „Dogmen werden von Offenbarungsreligionen mit dem Anspruch tradiert, absolute, in sich geschlossene und daher unbezweifelbare Wahrheit zu sein… Die Einsicht, dass Dogmen zeitbedingte Antworten auf zeitbedingte Fragen gegeben haben und daher notwendig vorläufige Aussagen sind, passt in dieses Konzept nicht“. (S. 186).

Abschied 4: von Erwählungs- und Verwerfungsvorstellungen
Wenn eine Gruppe oder Gemeinschaft sich VOR anderen erwählt wähnt, heißt das immer, das andere „verworfen“ werden. „Dass es immer wieder Kriege gegeben hat, weil Erwählungsvorstellungen miteinander konkurrierten, stellt eine besonders schlimme Seite des Themas dar“. (S. 188). Dadurch wird Gott reduziert, weil man ihm eine Parteinahme unterstellt, ihn menschlichem Willen unterwirft und ihn für menschliche Zwecke instrumentalisiert. Das steht im Gegensatz zur Größe Gottes und zur Lehre von Jesus Christus, der für unbedingte und unbegrenzte Liebe steht.

Abschied 5: von der Vorstellung einer wechselseitigen Ebenbildlichkeit von Gott und Menschen
„Die Ebenbildlichkeitsvorstellungen der Menschen behindern die Universalität Gottes.“ (S. 234). Es gibt kein authentisches Abbild von Jesus, geschweige denn von Gott, auch wenn die Künstler.innen über die Jahrtausende hinweg die wunderbarsten Kunstwerke zur Verehrung Gottes erschaffen haben. Und in den 10 Geboten ist inbegriffen, dass wir uns kein Bild machen sollen. Im Prinzip können wir es auch nicht. – Wir sind zwar zu Stellvertreter:innen Gottes auf Erden erkoren, aber nicht als Herren, sondern als „Diener“. Die Religionen haben viel Schuld auf sich geladen, als sie aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen das Recht über Leben und Tod herleiteten, z. B. bei der Kriegsführung und Inquisition.

Abschied 6: von der Herabwürdigung unserer Mitgeschöpfe
Es hat bis 1986 gedauert, bevor das deutsche Tierschutzrecht Tiere als Mitgeschöpfe anerkannt hat, für deren Wohlergehen wir Verantwortung tragen. Ihnen wurde keine Seele zugestanden. Das steht aber im Widerspruch zum Schöpfungsgedanken, in dem alle Schöpfung beseelt ist. In der Antike war der Verzehr von Tierfleisch an ein Opferfestmahl gebunden. Wie weit sich die Massentierhaltung, Tierversuche und unser übermäßiger Fleischverzehr davon entfernt hat, ist nicht akzeptabel.

Abschied 7: Der Tod sei der „Sünde Sold“
Der Tod als Strafe für den Ungehorsam von Adam und Eva: „Diese Vorstellung hat den Tod verunstaltet und zu einem Feind gemacht, gegen den wir einen aussichtslosen Kampf führen.“ (S. 266). Jörns interpretiert die Vertreibung aus dem Paradies aber als „Vertreibung ins Leben und zum Leben“. (S. 269). Einen Gott, der für die Verfehlung von Adam und Eva die ganze Menschheit bis zum heutigen Tag bestrafe, ist für ihn ein Widerspruch zur Liebe Gottes. Aus der Vertreibung aus dem Paradies wurde aber ein Gott geschuldeter Gehorsam abgeleitet, nicht weil Gott den fordert, sondern als Herrschaftsinstrument, das für menschliche Zwecke missbraucht wurde/wird. So ist es zu einer „Gehorsamstheologie“ (S. 282) gekommen. Sterblichkeit ist aber keine Strafe, sondern „geschöpflich, und insofern unser und aller anderen Kreaturen Schicksal“. (S. 280). Doch „durch die Auferstehung sind sterbliche und gestorbene Menschen des lebendigen Gottes Zeitgenossen, mit ihm gleichzeitig.“ (S. 285).

Abschied 8: vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühneopfer und von dessen sakramentalen Nutzung in einer Opfermahlfeier
Diese Abkehr hat für viele kontroverse Diskussionen gesorgt und Jörns hat das Thema mit weiteren Publikationen vertieft. – Schon im Alten Testament wurde das Menschenopfer durch Tieropfer ersetzt, als Abraham zunächst seinen Sohn Isaak opfern sollte, Isaak aber dann durch die Opferung eines Widders ersetzt wurde. (Das ist eine von vielen möglichen Auslegungen). Jörns Überlegungen kreisen um den Gedanken, warum Gott mit dem Menschenopfer Jesu wieder dazu zurückkehren sollte, wenn doch der Neue Bund auf Nächstenliebe basiert. Religiös motivierte Menschenopfer waren im Prinzip abgeschafft. Ein ganz weltliches Motiv zur Verurteilung Jesu steht im Johannes Evangelium. Der jüdische Hohepriester Kaiphas soll der Hinrichtung (!), nicht der Opferung, Jesu zugestimmt haben in der Hoffnung, dass der Tod des einen ein Blutbad unter seiner Gefolgschaft durch die römische Besatzungsmacht verhindern möge. Als Menschenopfer wurde es aber theologisch funktionalisiert, und Jörns sagt ganz klar: „Nur ohne ein solches Sühnekonzept ist mir Gott glaubhafter“ (S. 318). Das Sühneopfer überlagert aber Jesu bedeutsame Leistung: „Vor allem aber hat er die deprimierende Furcht der Welt vor dem Tod besiegt“ (S. 320). Jörns ist der Ansicht, dass eine Theologie, die an der Sühneopfertheorie festhalte, „das Evangelium in einem zentralen Punkt widerruft“. (S. 321). Jesu Verzicht auf Gegengewalt ist ein anschauliches Beispiel für die von ihm gepredigte Nächstenliebe. „Für die Instrumentalisierung von tödlicher Gewalt soll sich niemand mehr auf Gott berufen dürfen“. (S. 331).

Vergleich mit unserer Praxis
Die Lutherkirche versteht sich als Vertreterin einer Religion unter anderen, und hält auch die Aussagen der Bibel nicht für absolut oder losgelöst vom Rest der Welt. (Abschiede 1 bis 3). Pfarrer Hans Mörtter betont immer wieder den Zusammenhang der abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Dazu gehört auch die Gleichheit vor Gott. Keiner ist geringer oder wertvoller als der andere. (Abschied 4). Projekte wie der Vringstreff e. V., der sich gemeinsam mit der katholischen Severinskirche um Obdachlose kümmert und ein Restaurant als Begegnungsstätte führt, gehören dazu, wie auch das Menschensinfonieorchester, das eine einzigartige Inklusion von Menschen ohne Wohnsitz und Menschen mit Behinderungen lebt. Mörtters unermüdlicher Einsatz gilt insbesondere den Geflüchteten. Von 2015 bis 2019 beging die Lutherkirche einmal im Jahre eine christlich-muslimisch-jüdische Begegnungsfeier mit Imamin Rabeya Müller und Gästen.

Die Ebenbildlichkeit mit Gott äußert sich in unserer Aufgabe als Hüter.innen der Erde. (Abschied 5). Wenn das nicht so wäre, könnte die Lutherkirche in der multikulturellen und multiethnischen Kölner Südstadt kaum bestehen, und sie will integraler Bestandteil des Stadtteils sein. Mit Themengottesdiensten zu Plastikmüll im Meer oder „Genverändertes Saatgut von Monsanto“ wollen wir unseren Anteil leisten, Hüter der Erde zu sein und auf Missstände aufmerksam zu machen.

Die Würdigung von Tieren haben sich insbesondere Prädikantin Alida Pisu und Pfarrerin Anna Quaas auf die Fahnen geschrieben. Nach dem Themengottesdienst „Das Tier als Mitgeschöpf“ brachten Gottesdienstbesucher:innen Kostproben ihrer liebsten veganen Speisen mit. Die Vielfalt und Köstlichkeit der tierfreien Ernährung war überzeugend. Ein anderes Mal luden sie die Biobäurin vom Klefhof ein. Die erzählte im Gottesdienst „Unser Umgang mit Tieren“ von der artgerechten Haltung der Tiere, die ein Teil der Gemeinde dann auf dem Hof besuchte. Das war ein bewegendes Erlebnis, vor allem die zärtlichen Schweine haben einen nachhaltigen Eindruck auf uns hinterlassen.

Den Tod als Strafe Gottes auszulegen, käme Mörtter gar nicht in den Sinn. Er orientiert sich an der grenzenlosen Menschenliebe Gottes, und so sind seine Trauerfeiern eine Würdigung des Lebens in all seinen Facetten. Er versucht, das Leben des/der Verstorbenen zu ergründen im Scheitern, Versagen und Gelingen sowie in Bezug auf die Hinterbliebenen. Dazu gehören Vergebung, Dank, Liebe und die Aussöhnung mit dem Leben und dem Tod. Das befreit im Idealfall die Seele des/der Verstorbenen und stellt einen Abschluss dar, der den Hinterbliebenen über den Verlust hinweghilft.

Der angebliche Sühnetod Jesu bereitet wohl vielen Probleme. Die Lutherkirche hat ein Konzept, das sich vom Palmsonntag bis zum Ostermontag erstreckt. Am Palmsonntag schreiben wir auf Zettel, woran wir uns schuldig gemacht haben. Es gibt als kein „Outsourcing“ unserer Schuld. Das Erkennen und Bekennen zeugt schon von Eigenverantwortung. Am Gründonnerstag lädt Pfarrer Mathias Bonhoeffer zum Feierabendmahl ein. Er gedenkt der Nacht vor der Kreuzigung Jesu und stellt das letzte Abendmahl nach. In jedem Jahr gibt es eine neue Perspektive, sei es Jesus selbst, Petrus, Judas oder andere, und er lässt uns diese Nacht der Nächte nachempfinden. Der Karfreitag ist der ungewöhnlichste von allen. Es gibt Klanginstallationen, Obertongesang, kurze Texte, die von Schauspieler:innen gesprochen werden und Zeit, das auf sich wirken zu lassen. Keine Predigt oder sonstiges, bis auf das Abendmahl. Am Ostermorgen werden frühmorgens die „Schuldscheine“ vom Palmsonntag beim Osterfeuer draußen verbrannt. Danach folgt ein Gottesdienst in der dunklen nur durch ein paar Kerzen erhellten Kirche in die Morgendämmerung hinein. Beim gemeinsamen Frühstück im Gemeindesaal gibt es dann viel zu besprechen. Am Ostermontag haben die Kinder Vorrang und können noch mal Ostereier suchen. Da herrscht die Freude vor.

Fazit
So steht bei Mörtters erster These zur Reformation II die Wiederentdeckung des gnädigen Gottes im Vordergrund. Die zweite These prangert die Herrschaft der Finanzoligarchie und anderer an und er ruft zu mutigem Widerstand dagegen auf, damit die Welt wieder menschlich wird. Zum Schluss die dritte These, die eine moderne selbstbewusste Kirche fordert, „die Menschen in ihrem Bedürfnis nach Spiritualität und Lebensbezug des Glaubens wahr- und ernst nimmt und sich darin kommunikativ erneuert.“ – Er stimmt da mit Jörns überein, wenn Mörtter sagt: „Es ist Zeit für eine neue globale Ökumene. Glaube ist kein statischer Besitz der christlichen Kirchen. Wir lassen uns nicht mehr zu Sklaven der Angst machen.“ – Jörns stellt am Ende seines Buches Überlegungen zu einem Ökumenischen Rat der Religionen an und einem gemeinsamen Kanon aus den kanonischen Schriften der verschiedenen Religionen. Das hört sich nach tragfähigen Schmetterlingsflügeln an.

Helga Fitzner