Hans Mörtter
Schauen wir im letzten Teil des Gesprächs einmal auf die Handlungsmöglichkeiten. Es ist eine Frage des Bewusstseins bei uns – was kaufe ich, was kaufe ich nicht. Jetzt werden es wohl neun große Weltkonzerne, die unsere Regierungen in Abhängigkeit halten. Sie verkaufen sich als selbsternannte Retter der Welt, indem sie behaupten, dass nur sie mit ihrer Forschung und ihrem Know-how, ihren genmanipulierten Pflanzen, ihrem Dünger und Pestiziden usw. die zehn Milliarden Menschen im Jahr 2050 alle ernährt bekommen. Damit machen sie mit ihrer Lobby-Arbeit Politik von sich abhängig. Im Grund ist das eine Erpressungsgeschichte.
Valentin Thurn
Die argumentieren sehr schlau und sagen, diese Menge an Menschen können wir nur ernähren – darauf bin ich früher selber hereingefallen –, indem wir mehr Chemie auf dem Acker ausbringen und noch größere Landwirtschaft betreiben. Man muss tiefer in die Materie einsteigen, um zu begreifen, dass das pure Gegenteil der Fall ist. Wenn wir unser Landwirtschaftsmodell nach Afrika oder Südasien exportieren, dann lösen wir dort nicht die Probleme, sondern wir machen den Hunger noch größer. Zum einen, weil sie tatsächlich weniger ernten. Studien zeigen, dass eine Großfarm – da kann sie noch so effizient sein – immer weniger Lebensmittel pro Hektar Land erzeugt als ein Kleinbauer. Ein Kleinbauer in der Dritten Welt hat viel Arbeitskraft zur Verfügung, der kann – wir haben das gesehen –, auf drei Etagen anbauen, am Boden Süßkartoffeln, auf halber Höhe Hirse, in zwei Metern Höhe Straucherbsen. Das kann man nur von Hand bearbeiten, das geht nicht mit der Maschine. Dafür holt er aus dem Land sehr viel mehr heraus, und vor allem, er kann auch in Dürrejahren, wo vielleicht die eine Pflanze nicht gedeiht, bei den anderen noch etwas ernten. Das ist ein angepasstes System, das gut funktioniert.
Hans Mörtter
In Vielfalt, keine Monokultur.
Valentin Thurn
Keine Monokultur. 80 Prozent der Weltbevölkerung wird immer noch von Kleinbauern ernährt. Aber jetzt komme ich zu dem wahren Grund: Es geht nämlich nicht nur um die Masse. Selbst wenn so eine Großfarm eine Riesenmenge Lebensmittel erzeugt, die den Menschen vor Ort angeboten würde, und nicht in den Export geht wie üblich, dann bringt es immer noch nichts, weil sich die Menschen das gar nicht leisten können, die müssen es ja kaufen. Aber die haben nichts mehr, weil sie von ihrem Land vertrieben wurden in die Stadt, dort aber keine Arbeitsplätze vorfinden, weil es dort nicht diese Industrialisierung wie bei uns gibt. Besser ist hier das System der Kleinlandwirtschaft, weil das auch für eine Verteilung der Einkünfte sorgt. Das ist der wesentliche Punkt, wir sind momentan nicht in der Lage, diese Einkünfte zu verteilen. Aber was ist Armut anderes als ein Mangel an Kaufkraft. Ich habe bei allen Kleinbauern gemerkt, die wollen durchaus auch für den Markt produzieren, durchaus auch verkaufen, es dreht sich hier nicht um Subsistenzbauern. Die sind dazu auch in der Lage – das kann man sich aus Europa gar nicht vorstellen. Wir denken immer, na ja, das ist ein völlig rückständiges Landwirtschaftsmodell, aber nein, sie sind in der Lage, Millionenstädte zu ernähren, ganz regional. Bei uns ist die regionale Landwirtschaft fast nicht mehr vorhanden, eine Sehnsucht, zu retten, was oft schon verloren ging. Aber in den Entwicklungsländern gibt es das noch. Dort werden Großstädte aus den Gärten rund um die Stadt regional von den Bauern versorgt, und nur die Oberschicht kauft in den wenigen Supermärkten ein.
Hans Mörtter
In der „Süddeutschen Zeitung vom 24.09.16 wird auf den Weltagrarbericht aus dem Jahr 2009 hingewiesen, was ein Benchmark war, die Markierung eines Umbruchs. Ein offizieller wissenschaftlicher Bericht, mit dem festgestellt wurde, dass regional und sogar kleinräumig handelnde Landwirtinnen und Landwirte mit ihrem Wissen über Wetterkapriolen, Klimaveränderungen, Bodeneigenschaften, indigene Pflanzen und Tiere sowie kulturelle Traditionen mehr zur Ernährungssicherheit beitragen als globale Hightech-Lösungen. Botschaft und Erkenntnis: Es geht anders und besser, als uns die großen Konzerne glauben und fürchten machen wollen. Allerdings wurde das nur zur Kenntnis genommen. Die Regierungen, auch die deutsche Regierung, haben dem neo-kapitalistischen System der Konzerne wie Bayer Leverkusen u. a. ihr Vertrauen und ihre Unterstützung gegeben. Zum Glück wird die weltweite Vertretung der Kleinbauern immer stärker. Allein „La Via Campesina“ vertritt mehr als 200 Millionen Kleinbauern weltweit, andere sind ebenso aktiv und werden immer stärker. Jetzt sind wir mitten in einem Wandel, aber nur, so weiß ich, wenn wir da dranbleiben – jemand wie du, Valentin, mit all deinem Wissen und du hast ja auch ein Riesennetzwerk, auch journalistisch. Klar ist, wir sind gefragt und herausgefordert.
Valentin Thurn
Ich habe dann als Co-Autor ein Buch geschrieben „Harte Kost - Wie unser Essen produziert wird – Auf der Suche nach Lösungen für die Ernährung der Welt“ und damit tatsächlich auch mehr als eine Fachöffentlichkeit erreicht. Dann kam für mich aber ein Moment, wo mir klar wurde, dass das nicht reicht, um etwas zu ändern. Es gibt nicht nur eine Lösung für dieses Problem, sondern viele kleine, lokale Lösungen. Also fang ich hier vor Ort an, wo ich wohne. Ich wohne nun mal in Köln, und da liegt auch vieles im Argen, und das war der Grund. Das ist auch der Ort, wo ich über hundert Menschen in Köln begegnet bin, die sich bereiterklärt haben, an einem neuen Ernährungssystem zu stricken. Das haben wir Ernährungsrat getauft. Das klingt jetzt wie so ein Expertengremium, ist es aber nicht, es ist ein bürgerschaftlicher Prozess, bei dem jeder mitmachen kann. Vielleicht zeige ich erst mal kurz den Clip und wir reden dann weiter. (Link siehe unten.)
Valentin Thurn
Die Stadt Köln hat uns unterstützt, was mich immer gefreut hat. Und es gibt noch eine zweite Stadt, die das auf die Beine gestellt hat, das war Berlin, dort getragen vor allem von INKOTA, das ist eine entwicklungspolitische Organisation aus dem kirchlichen Bereich. Die haben begriffen, dass es schön und gut ist, sich um Entwicklungsländer zu kümmern, aber eigentlich ist der Ansatzhebel, die Verbindung mit unserem Konsum aufzuzeigen, und das war auch mein Ansatz. So kam ich vom Globalen hier auf das Lokale.
Hans Mörtter
Ein wichtiger Bestandteil ist eine radikale Umkehr unseres Konsumverhaltens. Wir essen viel zu viel Fleisch und Wurst, und das ist so selbstverständlich geworden. Da müssen wir uns radikal ändern, denn sonst ändert sich weltweit nichts. Dann werden weiter Futtermittel angebaut und angebaut und angebaut, und letztlich macht uns der hohe Fleischkonsum krank.
Valentin Thurn
Es gibt zwei Betrachtungsweisen. Wenn wir jetzt alle Vegetarier würden, dann ist das immer noch nicht gerecht verteilt. Ich habe es auch noch nicht ganz geschafft, aber ich habe meinen Fleischkonsum sehr stark reduziert. Aber wenn alle auf der Welt so viel Fleisch essen wollten wie wir Deutschen, dann bräuchten wir drei Planeten. Es geht schlicht und einfach nicht. Es gibt einmal das Problem des Wegwerfens und das des Fleischkonsums. Der steht in Konkurrenz zur restlichen menschlichen Ernährung, weil die Tiere mit ganz viel Futter vom Acker ernährt werden, denn das, was auf einem Acker wächst, kann auch dem Menschen direkt gegeben werden. Je mehr Fleisch wir essen, umso mehr Fläche muss für Tierfutter verwendet werden. Das drückt die Preise für pflanzliche Nahrungsmittel nach oben und sorgt damit für mehr Hunger. Diesen Zusammenhang kann man nicht leugnen.
Hans Mörtter
Ich finde, ein ganz wichtiges Wort ist Wertschätzung. Wertschätzung der Arbeit der Bauern, derjenigen, die Tiere halten, und auch dessen, was sie produzieren, was sie wachsen lassen. Das ist gleichzeitig Wertschätzung gegenüber mir selbst, meinem eigenen Körper, dass ich ein Recht darauf habe, dass mir das, was ich esse, guttut und mich nicht vergiftet. Ein Großteil dessen, was wir zu uns nehmen, vergiftet uns, das wissen wir eigentlich.
Valentin Thurn
Es gibt den radikalen Ansatz, Schulklassen sollen doch mal selber ein Hühnchen schlachten, um mitzukriegen, wo das Fleisch herkommt. Die Hälfte wird anschließend zu Vegetariern, die Fernsehköchin Sarah Wiener hat das gemacht. Ich fand das gut, weil die andere Hälfte der Schüler hat dann eben Wertschätzung gelernt, da wird schließlich ein Leben geopfert. Also wenn ich schon Fleisch esse, dann möchte ich auch wirklich jedes Teil vom Tier ehren. Beim industriellen Schlachten muss alles zack, zack gehen, da spielt das Tierwohl keine Rolle. Ich nutze inzwischen tatsächlich auch den Kontakt zu den vielen Bauern, die im Ernährungsrat mitwirken. Zum Beispiel einer aus dem Bergischen, der mir eine E-Mail schickt, wenn er schlachten lässt. Zu ihm kommt ein mobiler Schlachter auf die Weide, die Tiere werden eben nicht Hunderte von Kilometern zum nächsten Schlachthof gefahren und in Todesangst versetzt, sondern das geschieht relativ sanft. Die Entscheidung zum Vegetarismus habe ich für mich noch nicht gefällt. Meine Tochter hat das für sich irgendwann gemacht –, hohen Respekt! Es ist sicherlich ein guter Weg, denn 95 Prozent von dem Zeug, was im Supermarkt angeboten wird, stammt aus Massentierhaltung, machen wir uns nichts vor.
Hans Mörtter
Die Grundbedürfnisse des Menschseins sind gleich auf der ganzen Erde, das macht uns zu Geschwistern, sag ich immer, zu Brüdern und Schwestern. Wir wissen um diesen moralischen Imperativ in uns drin, der besagt, dass wir die anderen so behandeln, wie wir selbst behandelt werden möchten. Im Augenblick bekommt die Welt, das System Risse, weil immer mehr Menschen aufwachen und sich erinnern. Daraus erwächst eine Kraft, ein Zusammenschluss gegenüber den „Zwangsläufigkeiten der großen Konzerne unserer Welt“ (Jean Ziegler). Das ist eine Bewegung mit ganz viel Zukunft. Charles Péguy, Revolutionär der Französischen Revolution sagte über den 14. Juli 1789: „Niemandem wurde befohlen, die Bastille einzunehmen. Niemand wurde dazu bestimmt. Trotzdem wurde sie eingenommen!“ Also ich sag nicht, dass Bayer eine andere Bastille werden könnte...
Valentin Thurn
Bis wir die politischen Mehrheiten bekommen, um das System zu stürmen, sollten wir in kleinen Insellösungen beweisen, dass es anders geht. Indem wir vor Ort mit unseren Kaufentscheidungen eine ökologische Agrarwende herbeiführen.
Hans Mörtter
Vielen Dank Valentin Thurn, dass du da warst.
Redigiert von Helga Fitzner