Hans Mörtter
Jetzt sag mal, das ist lange her, aber das fand ich sehr beeindruckend, als ich’s gesehen habe. Du hast nämlich in Hamburg 1984 vor der Ruine der Nikolaikirche einen Stein gesetzt. Wenn man so auf den Stein und dann in der Verlängerung den zerstörten Turm der Nikolaikirche sieht, ist dieser Stein so was wie eine andere Form von Eingang – der verschließt auf der einen Seite, öffnet aber auf der anderen Seite, steht in einer Beziehung. Diese Zerstörung, Verletzung, vielleicht auch Verstörung ist eine große Irritation und dagegen steht so die stille Wahrhaftigkeit deines Steins, deiner Arbeit. Ich war fasziniert, weil das so eine unglaubliche Präsenz hat.
Ulrich Rückriem
Das weiß ich nicht so genau. Ganz genau hab ich den Stein nicht im Kopf, weil ich so viel gemacht habe, aber meistens ist es so, dass der Ort, wo ich etwas hinstelle, Teil der Arbeit ist, das sind so 50 Prozent. Wenn eine Skulptur so einfach ist, wie ich sie mache, dann geht der Blick sehr schnell in die Umgebung, das ist ganz normal. Habt ihr das verstanden? Sagt doch mal ja! (Die Gemeinde lässt ein deutliches Ja hören). Deswegen ist es so gemein, wenn da jetzt die Umgebung verändert wird. Zum Beispiel steht eine sehr schöne Arbeit von mir, eine ganz große Stele auf dem Philosophenplatz, wo die Brücke rübergeht, auf der anderen Seite ist auch noch die Uni Köln, der Albertus Magnus sitzt da auf nem Stuhl, eine schöne Arbeit, und wenn man über die Brücke rübergeht, steht die auf dem Platz. Jetzt verändern die den Platz so stark mit einer Treppe, die sie davor bauen, da hab ich gesagt, nee, nee, das geht nicht, dann müssen sie abbauen, weil ich das damals der Uni geschenkt hab. Kannst du die irgendwo anders hinsetzen? fragen die. Ich sag, nein, die wird abgebaut, und ich bestimme dann, wo die hinkommt. Haltet euch da raus – Knallerbsen, wie sie sind, grauenhaft, hältste im Kopf nicht aus. Und das passiert öfters, aber ich kann jetzt nicht durch die ganze Welt flitzen und überall gucken, ob die Arbeiten noch richtig stehen.
Dann werden sie jetzt mittlerweile auch sehr stark beschmiert und zum Teil verbrannt. Jetzt kommt das Allerdollste: Ich hab das einmal in England – in England kann man ja einiges erleben, was man vielleicht im Rest von Europa nicht erleben kann, ich mag England nicht. Ist hier ein Engländer? (Ja). Hab ich vielleicht Pech. Nee, pass auf, da haben die wahrhaftig fertig gebracht, Autoreifen, drei, vier große Autoreifen um die Skulptur zu stellen, haben da Benzin drübergeschüttet und haben die angezündet. Das war so ein starkes Feuer und so eine starke Hitze, dass der Granit geplatzt ist. Bumm, weg war er. Dasselbe ist hier in Essen passiert – jetzt hab ich vergessen, wie das heißt, wo die Skulpturen stehen. Da war eine Arbeit, wo ich da reingegangen bin in das Material, hab’s rausgenommen, und da entsteht eine Leere innen, und da haben die auch ein Riesenfeuer reingemacht, und da ist die auch geplatzt. Also es fängt jetzt an, dass Arbeiten von mir zerstört werden – entweder vom Vandalismus oder eben von der Stadt oder vom Staat oder von denen, die dann den Ort, weil er zu 50 Prozent so wichtig ist, so verändern, dass die Skulptur da nicht mehr hinpasst. Dann muss sie weg. Wenn so eine Arbeit vor einer Ruine steht, dann ist das ja da auch schon passiert. Und das Nächste, was passieren kann, ist eigentlich schon, dass auch meine Arbeit irgendwann mal Ruine wird. Dann ist es eigentlich auch so, der einzige Ort, wo es in etwa sicher ist, ist eben das sogenannte Museum, aber das kann ja auch mal von einer Bombe getroffen werden und auseinanderfliegen.
Hans Mörtter
Da gibt es viel Dummheit im Umgang mit den Werken – also was Stadtverwaltungen so machen, leben wir gequält in Köln mit. Beim Vandalismus hab ich das Gefühl, das hat auch was damit zu tun, dass Arbeiten von dir auch eine große Provokation sind für Menschen, die nicht mehr wissen, wer sie sind, die ein Stück ihrer Identität verloren haben. Auf einmal sind sie mit einer Arbeit von dir konfrontiert, und das ist dann nicht auszuhalten, also wird der Stein zerstört.
Ulrich Rückriem
Es kann auch sein, dass sie verärgert sind, dass das Kunst sein soll. Jeder hat ja eine eigene Vorstellung von Kunst. Jeder von uns hat ein anderes Gefühl. Wenn er ins Museum geht, dann mag er das und das andere nicht. Ein Künstler muss heute behaupten, das, was ich mache, ist Kunst, und das steht im Gegensatz zu allem anderen. Andere sagen, nein, das ist für mich keine Kunst, oder das ist prima, das ist richtig, das ist gut. Dann dürft ihr nicht vergessen, da kommt das Kunstgeschäft und definiert dann ganz bestimmte Arbeiten, weil es wie Gold behandelt wird.
Hans Mörtter
Das heißt, der Kunstmarkt bestimmt, was Kunst ist.
Ulrich Rückriem
Im Grunde ja.
Hans Mörtter
Du kannst als Künstler teilweise sagen, was du willst, es nützt ja nichts.
Ulrich Rückriem
Das ist ja klar, dass auch Kunstkritiker und Leute, die Ausstellungen machen, Galerien und Museen das mit bestimmen. Auch wenn ich jetzt über den Kunstmarkt schimpfe, hab ich ja eigentlich auch ganz stark davon gelebt. Das ist ja so eine Art von Schizophrenie. Ich hab Glück gehabt und in sehr guten Galerien angefangen, und dadurch bin ich in Museen gekommen, und dadurch haben Kritiker das hochgespielt, fanden das gut, und dann ging’s in die Welt. Ich war ja in fast jedem Erdteil, hab überall Arbeiten gemacht.
Hans Mörtter
Deine Arbeiten, finde ich, die geben auch eine Stabilität vor. Du sagst: Meine Steine, die sind auch Tempel.
Ulrich Rückriem
Na ja, mit dem Tempel, das ist nicht gefährlich. Es gibt ganz bestimmte Arbeiten. Das Denkmal für Heinrich Heine in Bonn, das ist so eine Art von Tempel. Durch das Spalten, Schneiden, Schleifen und Polieren – ich hab den Namen in das Innere des Tempels oder des Steines reingesetzt. Das ist fantastisch, dass das Drumherum so stark mitwirkt. Dahinter ist ein Berg, der geht leicht hoch, und oben steht ein anderes Denkmal, von einem anderen. Ich hab vergessen, wie der heißt.
Hans Mörtter
Das heißt, das Denkmal für Heine ist im Kontext mit allen so ein Stück Ewigkeit? Was es dann zum Tempel macht.
Ulrich Rückriem
Das ist schwierig. - Zum Beispiel, das ist ein Altar hier. Ich hab Altäre gemacht, sieben Stück, in Deutschland stehen sieben Altäre rum, und der letzte, den ich gemacht habe, ist in Hildesheim in der wunderschönen Kathedrale. Da hab ich zum ersten Mal Gold eingesetzt – da lacht ihr euch kaputt, ne? Da hab ich den Tisch gemacht durch Spalten und Schneiden und das Innere rausgezogen und dann war es ein Tisch. Dann hab ich die Innenseiten vergoldet, und das Licht von einem Chorfenster kam in den Altar rein, das war wahnsinnig, wie das gewirkt hat. Dann hab ich gedacht, so, erst mal ist es ein Tisch, doch weil ich es gemacht hab, ist es eine Skulptur, und wenn ihr jetzt an Gott glaubt, ist es ein Altar. Alles kapiert?
Hans Mörtter
Es lohnt sich auf jeden Fall. Guckt im Internet mal unter Hildesheimer Altar. Wenn ich mal in Hildesheim bin, muss ich mir das auch mal angucken und auf mich wirken lassen, weil das phänomenal ist. Ich glaube, die katholische Kirche selber hat gar nicht so richtig begriffen, was sie da hat.
Ulrich Rückriem
Nee, die wollten das umsonst haben. Da hab ich gesagt, kommt gar nicht infrage. Ich hab so viel Steuern bezahlt, ich bin ja nie ausgetreten, hab ich verpasst. Nee, nee, das ist enorm, und da wollten sie mir ein Grab anbieten. Da gibt es so wunderbaren Rosenstrauch, 2.000 Jahre alt, wahnsinniges Ding, und der Erzbischof, der war aus Kölle, sagt zu mir: Hör mal, wenn du das umsonst machst, kriegst du das Grab hier unter dem Rosenstrauch. Da hab ich gesagt, leg dich da selbst rein. Dann hat er gesagt: Komm, lass uns einen trinken gehen.
Hans Mörtter
Also kein heiliger Ulrich Rückriem. Wir machen eine kleine Pause …
Ulrich Rückriem
Nee, wir können auch aufhören. Wenn ihr nach Hause gehen wollt …
Hans Mörtter
Halt die Schnüss, Ulrich, du hörst jetzt Bettina mit dem, was sie für dich ausgesucht hat.
Ulrich Rückriem
Spielst du was von Bach? Haste ne Fuge … Kannst du ne Fuge spielen? Ich kann eine, ich kann die selber machen. Ich bin kein Musiker, ich klimper.
(Bettina Scheibler spielt auf der Bratsche eine Fuge von Bach)
Hans Mörtter
Die Bratsche von Bettina ist auch was Besonderes, nämlich über 200 Jahre alt. Ein Schatz. Kommen wir noch mal zurück zum Hildesheimer Altar: Archaisch ist dieser Stein, ur-menschlich könnte man sagen, und ist eigentlich, dachte ich mir, eine Provokation, ein Widerspruch zu jeder enggeistigen Inbesitznahme durch etablierte Kirchen, also so wie: Mach uns da jetzt mal was Besonderes, mach uns da mal einen Altar.
Ulrich Rückriem
Es bleibt ja ein Altar.
Hans Mörtter
Ja, aber ist das nicht eine Provokation eigentlich, dein Altar?
Ulrich Rückriem
Nee, der ist still.
Hans Mörtter
Der ist still. Und drumherum passiert die Eucharistie, die Wandlung, großes Trarara, großes In-Szene-Setzen.
Ulrich Rückriem
Eine ganze Menge verstehe ich selbst nicht so genau. Ich geb eigentlich auch auf, wenn ich da nicht reinkomme, wenn ich das nicht verstehen kann, wenn ich das nicht erfühlen kann, dann muss ich es akzeptieren. Ich muss auch meine Hilflosigkeit akzeptieren. Das ist das Allerwichtigste überhaupt.
Hans Mörtter
Ich hatte das Gefühl, dass du mit dieser Arbeit eigentlich der katholischen Kirche oder Kirche wie auch immer, Entwicklungshilfe gibst, nämlich, dass egal, was da geschieht, dass das eine Tiefe bekommt. Genau wie mit dem Bild, das wir hier an der Wand haben von Christos Koutsouras, dieses wahnsinnige Bild. Das gibt dem, was hier geschieht, noch mal eine andere Tiefe, eine Tiefenschärfe, eine Konzentration, je nachdem, was man …
Ulrich Rückriem
Es ist sehr wahrscheinlich, dass man es gar nicht verstehen kann.
Hans Mörtter
Weil man es nicht verstehen muss, weil man es nicht begreifen kann.
Ulrich Rückriem
Es gibt auch zum Beispiel das Wolkenbild, das sich dauernd verändert. Wenn ich in den Himmel gucke und das Wolkenbild sehe oder die Veränderungen, morgens bis abends und sogar bis in die Nacht, wenn der Mond kommt, dann bin ich fasziniert. Dann gibt es eben auch die Künstler, die das versuchen zu erreichen oder da ranzukommen. Aber das gibt es auch, dass man es irgendwann nicht kann, dass man es nicht erreichen kann. Das muss man einfach akzeptieren, wie man Krankheiten, die man bekommt, akzeptiert. Man kann sogar – hab ich gelesen, wie das geht, weiß ich nicht –, eine Krankheit umformen in etwas Heiliges, in etwas Positives, zu etwas, was hilft. Das hab ich noch nicht ganz kapiert – wenn ich Schmerzen hab, denke ich, hoffentlich sind sie bald vorbei. Das sind eine ganz Menge auch philosophische Fragen.
Hans Mörtter
Ja, weil es dich herausfordert, was geschieht.
Ulrich Rückriem
Ja, und das ist eigentlich mit der Kunst auch so. Man kann Kunst eigentlich nicht erklären. Aber ich versuche es, da ist ja eine Logik drin in den sieben Punkten meiner Zeichnungen. Ich verteile sieben Punkte auf ein Blatt und verbinde vom ersten zum zweiten zum dritten zum vierten zum fünften zum sechsten zum siebten, und der siebte geht wieder an den Anfang zurück, das ist das Prinzip.
Hans Mörtter
Das seht ihr auf den sieben Wabenfenstern.
Ulrich Rückriem
Die sind da drin.
Hans Mörtter
Lesen und sehen muss man es von links nach rechts.
Ulrich Rückriem
Da ist von eins bis sieben, und der Ort ist sehr wichtig, nicht nur weil es eine Kirche ist, sondern weil es da sieben Fenster gibt, die hintereinander kommen. Dann gibt es eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, und weil eben die Zahl sieben vorhanden ist, und die sieben Punkte, die ich verbinde, und dann die Flächen, die kann ich jetzt schwarz, blau, rot, gelb, weiß … die ganzen Variationen hab ich gemacht. Ich hab ungefähr 7.500 Zeichnungen in den letzten zehn Jahren gemacht. Das ist so etwas, was endlos ist, was in die Endlosigkeit geht, was andere auch übernehmen können. Es gibt auch schon andere, die das für mich gemacht haben. Es geht aus dem verdammten Kunstmarkt raus. Ich signier die auch nicht. Ihr kriegt nachher was geschenkt, kommt nicht und fragt mich, ob ich das signiere. Habt ihr verstanden? Sonst werde ich ganz sauer.
Hans Mörtter
Ulrich, du sagst, ich mache das und das kann jeder machen. Aber da gehört schon eine spezieller Blick dazu und ein Schuss Wahnsinn vielleicht auch.
Ulrich Rückriem
Ja, ein Schuss Wahnsinn.
Hans Mörtter
Wenn man sich in deiner Wohnung umschaut, da hast du ja auch sieben mal sieben Punkte, 49 Punkte, und ich guck da drauf, mit den vier Grundfarben sind die Flächen ausgemalt, und ich dachte, mir sprengt es das Gehirn.
Ulrich Rückriem
Ja, du wirst verrückt, man kommt ins Irrenhaus.
Hans Mörtter
Allein das Gucken, das geht nicht, das schießt einen weg. Wenn es mich schon wegschießt nur vom Draufgucken, wie ist es dann mit dem, der das macht?
Ulrich Rückriem
Man kann es sogar mit dem Computer machen.
Hans Mörtter
Wirst du zum Richter (Gerhard Richter) oder?
Ulrich Rückriem
Nee, den mag ich nicht. Das darf ich nicht sagen. Weißt du, das ist so was, was ich dann nicht darf, das tut man nicht. Sollen wir ne kleine Pause machen.
Hans Mörtter
Wir kommen zum Schluss, gleich.
Ulrich Rückriem
Schluss, kann ich nach Hause?