Hans Mörtter
Wir haben ganz aktuell wieder die Situation, dass die Ocean Viking von Ärzte ohne Grenzen mit ungefähr 180 geretteten Menschen auf See herumkurvt und in keinen Hafen einlaufen darf. Die Geschichte kennen wir ja pausenlos, und du hast sie auch erlebt mit der Sea-Watch. Was heißt das, nicht einlaufen zu dürfen, keinen Hafen zu haben, mit den vielen Menschen an Bord ein- und ausgesperrt zu sein? Das muss eine Belastung für die Crew und die Gäste sein, wie ihr die Geretteten nennt. Das finde ich ein wunderbares Wort, nicht Gerettete, sondern Gäste zu sagen. Was läuft da eigentlich ab?
Thomas Scheible
Ja, das baut sich so langsam auf. Wenn die bei uns an Bord kommen, sind die erst mal happy, fallen auf die Knie, beten, tanzen, schreien, umarmen sich, was auch immer. Ich hab das letztes Jahr Weihnachten/Neujahr selbst erlebt, dass wir 22 Tage lang 37 Menschen an Bord hatten und die EU darüber gefeilscht hat, welches Land vier aufnimmt und welches Land sechs aufnimmt, während draußen schlimmste Winterstürme tobten. Das Einzige, was wir genug hatten, waren Kotztüten, die wir wirklich die ganze Zeit gebraucht haben. Ja, das schaukelt sich dann so hoch. Erst mal sind die Menschen entspannt und glücklich, auf Dauer werden sie aber sehr nervös, weil sie schon mitkriegen, dass wir irgendwie gute Menschen sind, aber natürlich auch nicht sicher wissen, wie sehr sie unserer Entschlossenheit, sie auf gar keinen Fall zurück nach Afrika zu bringen, trauen können. Die kriegen ja mit, dass wir keinen Hafen anlaufen dürfen, dann vergeht wieder ein Tag, und es vergeht wieder ein Tag, wir dürfen da nicht hin, wir dürfen dort nicht hin, und irgendwann machen sie sich halt Gedanken, und irgendwann kriegen sie natürlich einen Koller. Die sind bei uns auf sehr, sehr engem Raum untergebracht. Wenn das Wetter gut ist, haben sie viel Platz auf dem Achterdeck, im Winter sind alle in einen sehr, sehr kleinen Raum, man kann sagen, gepfercht. Es waren starke Stürme, der Raum ist kaum möbliert, wir haben die wirklich wie Gepäckstücke mit Spanngurten am Boden befestigt, damit die nicht durch dieses Schiff fliegen. Das ist natürlich, so nett wir sind, keine Behandlung, die man sich irgendwie wünscht. Am Ende haben wir Schutz vor dem Sturm im Windschatten von Malta gesucht. Wir hatten ein Verbot, in maltesische Hoheitsgewässer zu fahren, das haben wir gebrochen insofern, dass wir näher an die Insel herangefahren sind, damit wir ein bisschen im Windschatten sind, sind aber nicht in den Hafen eingelaufen, weil uns das das Schiff gekostet hätte. Das ist immer so eine Abwägung, nimmt man jetzt Rücksicht auf die Menschen, die man an Bord hat, auf deren Wohlbefinden, oder nimmt man Rücksicht auf das Schiff, damit man nächste Woche auch noch Menschen retten kann. Ja, da waren wir sehr nah an Malta, und da sind dann auch die ersten ins Wasser gesprungen und haben versucht, herüberzuschwimmen, und wir mussten sie wieder einsammeln, weil sie es definitiv nicht geschafft hätten. Das sind Situationen, die es immer wieder auf Rettungsschiffen gibt, dass Menschen wirklich aus Verzweiflung ins Wasser springen und versuchen, in die Freiheit zu schwimmen.
Hans Mörtter
Wie verarbeitest du das, wie verarbeiten die Crewmitglieder solche Erlebnisse?
Thomas Scheible
Ich glaube, ich arbeite noch dran. Wir haben eine psychologische Betreuung vor und nach den Einsätzen auf dem Schiff als Crew und auch in Einzelgesprächen. Wir haben die Möglichkeiten eigentlich in jeder Stadt – es gibt so ein Netzwerk von Notfallseelsorger*innen und Supervisor*innen, an die sich jedes Crewmitglied jederzeit anonym wenden kann. Da gibt es eine Liste, nach Postleitzahlen sortiert, und in jeder Stadt und in jedem kleineren Ort ist jemand. Das nehmen die Leute in Anspruch, das habe ich auch schon in Anspruch genommen. Meine Verarbeitung ist definitiv, darüber zu sprechen, egal ob in einem Rahmen wie hier oder in kleineren Runden. Ich verarbeite die Dinge, indem ich sie mit anderen teile. Ich habe zum Beispiel nach meinem schlimmsten Einsatz, wo wirklich 50 Menschen vor unseren Augen ertrunken sind, während wir die anderen 100 gerettet haben, Leute in meinem Freundeskreis gesucht, die sich mit mir zusammen die Videos davon angucken. Das war schwer, diese Leute zu finden, ich wollte auch niemanden dazu nötigen, aber für mich war das total wichtig, das zu teilen. Ich hab auf meinem Boot immer eine Kamera auf dem Kopf und eine Kamera hinter mir, weil es wichtig für uns ist, alles zu dokumentieren, gerade wenn es irgendwie zu Übergriffen kommt von irgendwelchen Milizen oder für uns, quasi als Lehrmaterial. Je schlimmer der Einsatz war, desto mehr sitze ich abends zu Hause und gucke mir diese Videos an, weil ich das einfach brauche zur Bearbeitung, zur Aufarbeitung, und mir das sehr wichtig ist, dass Menschen, die mich auf welche Art auch immer kennen, schätzen, lieben, das mit mir teilen und einfach wissen, was ich da erlebt habe.
Hans Mörtter
Das Teilen, und dass es Menschen gibt, die zwar keine Rettungsfahrten mitmachen, aber zuhören und da sind und auf die Art das mittragen, das finde ich super. - Ich würde jetzt gerne auf Horst Seehofer und die libysche Küstenwache eingehen. Ich freue mich so sehr, dass Gerhart Baum, der erste Gast hier im Kölner Talkgottesdienst, seinen FDP-Vorsitzenden Lindner schallende Ohrfeigen verpasst hat für seine menschenverachtenden Aussagen zum Ertrinkenlassen. Es geht um den angeblichen „Pull-Faktor“: Sea-Watch und die Rettungsschiffe, so heißt es immer wieder, sorgen dafür, dass so viele Menschen deswegen aufs Mittelmeer fahren, weil sie wissen, dass sie gerettet werden. Thomas, mit dem Vorwurf hast du es ja immer wieder zu tun.
Thomas Scheible
Ja, das ist der Lieblingsvorwurf unserer Kritiker. Meine kürzeste und einfachste Antwort lautet: Da haben sich nicht Leute hingesetzt und gesagt: Mensch, pass auf, wir kaufen uns ein Rettungsschiff, fahren raus, und dann werden schon irgendwelche Leute in ein Schrottboot steigen und versuchen, zu uns zu kommen. Es war anders herum. Es sind Tausende von Menschen dort jämmerlich ertrunken, nachdem sich staatliche Rettungsdienste immer mehr zurückgezogen hatten, nachdem Italien seine Operation Mare Nostrum 2014 eingestellt hatte. Die Bootsflüchtlinge waren vor uns da, erst danach sind wir gekommen. Das wird immer wieder von Instituten und von Universitäten recherchiert und geprüft: Diesen Pull-Faktor gibt es nicht. Es fahren genauso viele Boote heraus oder mehr noch, wenn keine Rettungsschiffe da sind, und es sind unheimlich viele Menschen ertrunken in dieser Lücke zwischen 2014 und 2015, nachdem das italienische Programm beendet wurde. Wir haben nichts damit zu tun, dass Leute herausfahren. Es kann durchaus sein, dass irgendein Schleuser auch mal auf einer elektronischen Seekarte sehen kann, wo unsere Schiffe sind. Wenn der ein Boot herausschickt und es in unsere Richtung schickt, dann ist das doch gut, weil die Menschen nicht in den sicheren Tod fahren. Aber diese Menschen, die werden da herausgeschoben, und es ist total egal, ob wir da sind oder nicht, für den Schleuser.
Hans Mörtter
Was ich so erschreckend finde bei solchen Diskussionen, dass nicht gesehen wird, dass da Menschen auf der Flucht sind, weil sie zu Hause keine Chance haben. Keiner verlässt freiwillig sein Zuhause, seine Wurzeln. Ich sehe das sehr stark bei Hermon aus Eritrea, der als Jugendlicher geflohen ist und den wir zweimal freigekauft haben, im Sudan und in Libyen, der gestern auch wieder bei mir war. Er leidet sehr darunter, seine Heimat verloren zu haben, seine Geschwister noch dort zu haben und hier mit seiner Mutter allein zu sein und den Geschwistern nicht wirklich helfen zu können. Er soll sagen, dass er glücklich ist, in Deutschland zu sein, und er sagt auch: Ich bin jetzt hier zu Hause. Gleichzeitig ist er aber auch in Eritrea zu Hause, und das zerreißt ihn fast. Man verlässt seine Heimat nicht einfach so. Alle wissen, dass der Weg lebensgefährlich ist, der Weg durch die Wüste allein schon. Die Wahrscheinlichkeit, Menschenhändlern zum Opfer zu fallen, ist extrem hoch, von ihnen ausgeschlachtet zu werden, die Organe entnommen zu bekommen, ist hoch. Auf das Boot zu steigen, das ist Glück. Die Wahrscheinlichkeit, mit dem Boot unterzugehen, ist hoch. Wie verzweifelt müssen Menschen sein, dass sie all diese vielfachen Risiken auf sich nehmen und es trotzdem tun? Und wie krank sind Menschen, die behaupten, dass Rettungsschiffe einen Sog verursachen würden. Unsere Wirtschaft und unsere Politik verursachen den Sog, aber es ist kein Sog, weil die meisten sowieso in Afrika bleiben. Und jeder hat einen Namen, einen Vornamen, ein Alter, eine Mutter, einen Vater, soweit sie denn noch leben Großeltern, eine Geschichte, ist ein Mensch, hat seinen eigenen einzigartigen Fingerabdruck. Deswegen ist die Seenotrettung, die ihr macht, so unverzichtbar.
Thomas Scheible
Ja, und wir nennen auch immer als eins der Beispiele: Wenn wir die Feuerwehr abschaffen, wird es immer noch Menschen geben, die mit einer Zigarette im Bett einschlafen.
Hans Mörtter
Jetzt haben wir den großen Wandel des Horst Seehofer, Bundesinnenminister, eines absoluten Hardliners erlebt. Der hat uns, seit er Minister ist, das Kirchenasyl abschafft und uns dermaßen Knüppel zwischen die Beine geworfen, dass Kirchenasyl eigentlich unmöglich geworden ist und sich auch immer weniger Gemeinden trauen, das zu gewähren. Wir haben trotzdem sieben Kirchenasyle hier in der Lutherkirche laufen, wir stellen uns dem entgegen. Wir lassen uns nicht einschüchtern und halten da durch. Ist stressig, ist aber so. Da entlarvt sich ein Innenminister eben auch, wenn er uraltes heiliges Recht infrage stellt, Menschen zu schützen für einen bestimmten Zeitraum. Jetzt sagt er ja laut und deutlich, dass Deutschland bereit ist, 25 Prozent Gerettete von den Rettungsschiffen aufzunehmen. Frankreich ebenfalls 25 Prozent, das ist der Deal, das ist schon die Hälfte, und die restlichen 50 Prozent wollen sie am Montag in Malta verhandeln, wie sich das dann noch verteilt. So ist das Problem gelöst, dass die Rettungsschiffe nicht in Häfen einlaufen dürfen. So! Da wundert man sich: Auf der einen Seite hat unser massiver öffentlicher Protest schon gewirkt. Dieser Mann hat gemerkt, dass er seine knallharte Linie nicht durchhalten kann, die Menschen einfach ertrinken oder sie nicht an Land zu lassen. Also erinnert er sich irgendwie vielleicht an das Christlich-Soziale, wobei die vielleicht gar nicht mehr wissen, was das ist. Aber was heißt das wirklich? Wird ein Wolf plötzlich zum Schaf, oder bleibt er Wolf und zieht sich ein bisschen Fell über, den Schafspelz?
Thomas Scheible
Der Wolf hat Kreide gefressen oder die Wölfe haben Kreide gefressen. Es ist in den letzten Monaten ein starker öffentlicher Druck entstanden, nicht zuletzt durch die sehr medienwirksame Geschichte mit unserer Kapitänin Carola Rackete, die vor mittlerweile fast drei Monaten entgegen aller Anordnungen nach Lampedusa in den Hafen eingefahren ist. Seitdem ist übrigens auch unser Schiff nach wie vor beschlagnahmt. Das Schöne ist, dass Carola nicht ins Gefängnis musste und das Strafverfahren wahrscheinlich auch ziemlich glimpflich ausgehen wird, denn es gab eine riesige Solidaritätswelle, die bis heute anhält. Es ist aber schlimm, dass wir bis heute kein Schiff haben und die Politik sich gezwungen gesehen hat, über diese große Öffentlichkeit, sich über diese mediale Aufmerksamkeit, die wir hatten, zu äußern und da eben ein bisschen Kreide zu fressen, aber das ist auch alles sehr, sehr doppelzüngig. So sehr sich jetzt irgendwelche Staatenlenker dazu äußern und sagen, dass Seenotrettung kein Verbrechen ist, wir können immer noch nicht auslaufen. Und auf die Protestnote der deutschen Regierung gegen die Beschlagnahme unseres Schiffes, auf die warten wir bis heute. Stattdessen wurde zwischendurch unser Suchflugzeug von italienischen Behörden stillgelegt – das haben wir mittlerweile wieder lösen können.
Hans Mörtter
Das ist die Moonbird.
Thomas Scheible
Die Moonbird. Wir betreiben auch ein Flugzeug, mit dem wir die Menschen finden, weil staatliche Stellen sich mittlerweile auch weigern, mit uns zusammenzuarbeiten. Der neuste Clou ist, dass vor Ort von Militärschiffen unsere Funkfrequenzen gestört werden. Also es ist nicht so, dass da ein Sinneswandel stattgefunden hat, sondern man sieht sich gezwungen, öffentlich in irgendeiner Form Farbe zu bekennen, aber gleichzeitig wird dann hinter den Kulissen die sogenannte libysche Küstenwache, was einfach irgendwelche kriminellen Milizen sind, mit menschenverachtenden Mördern an Bord, weiter aufgebaut. Es wird nach wie vor alles dafür getan, dass wir unsere Arbeit nicht machen können. Es wurde die Lösung geschaffen oder man arbeitet dran, dass wir nicht mehr vier Wochen mit Geretteten an Bord durch die Gegend irren müssen, es wird aber auch alles versucht, dass wir keine Menschen mehr retten, nach wie vor.