Hans Mörtter
Friede kann nur wachsen, wo Gerechtigkeit herrscht! Es gibt die nigerianische Menschenrechtsaktivistin Hafsat Abiola. Ihre Eltern sind auch ermordet worden, sie waren Bürgerrechtler. Sie ist aktuell eine starke Kritikerin von Shell in Nigeria. Ein Zitat von ihr: "Der ökologische Krieg, von dem Ken Saro-Wiwa damals sprach, tobt ja noch immer – einfach, weil die Ölkonzerne von so großer strategischer Bedeutung für die Volkswirtschaften aller Industrienationen sind und deshalb eine enorme Macht haben!" – Aber zurück zu dir: Nach der großen Demonstration am 1. Mai 1989 wurdest du irgendwann entdeckt und verhaftet. Du warst acht Monate lang im Gefängnis der Staatssicherheit. Was hieß das für dich?
Sunday
Ich habe die Wirkung, die solche Verhältnisse haben, wirklich unterschätzt, bis vor ein paar Jahren deutlich wurde, was das alles bei mir hinterlassen hat – mehr, als ich zugeben wollte. Ich befand mich mit 80 anderen in einer Zelle von 50m², wo es keine Toilette gab, keine Möglichkeit, sich zu "erleichtern". Es gab zwei Doppelbetten, also vier Schlafmöglichkeiten. Eine von diesen Schlafmöglichkeit hat der "Präsident" der Zelle für sich in Anspruch genommen.
Hans Mörtter
Was hat den "Präsidenten" der Zelle ausgemacht?
Sunday
Der "Präsident" ist meistens ein Mörder, ein Schwerkrimineller, den die Staatssicherheit ernennt. Der soll der Chef sein und hat alle Privilegien. Der Staat hat uns kein Essen gegeben, und deshalb mussten Eltern und Bekannte immer Essen in die Zelle bringen. Aber wenn es herein gebracht wurde, musste das erst diesem "Präsidenten" vorgelegt werden, und der konnte dann entscheiden, wer was kriegt und wer nicht. Das gleiche galt auch fürs Schlafen. Da wir in "Schichten" geschlafen haben, entschied der Präsident, wann du dran warst: "Jetzt darfst du zwei Stunden schlafen!", oder er kann plötzlich sagen: "Eine Viertelstunde reicht, steh auf, der Nächste ist dran!" Es ist natürlich ein bisschen schwierig, darüber zu berichten. Neben der psychologischen Gewalt, wurden wir extremer körperlicher Folter ausgesetzt, von Elektroschocks bis Nadeln in den … [unverständliches Englisch]
Hans Mörtter
… Nadeln in den Penis.
Sunday
… in den Penis und so. Viele Männer wurden vergewaltigt – von wegen, es gibt keine Schwulen in Afrika!
Hans Mörtter
Du erzähltest von Scheinexekutionen?
Sunday
Ja, das ist ein Teil der Folter. Wir waren ungefähr 80 in der Zelle – über acht Monate. In diesen acht Monaten wurden ungefähr zehn Leute abtransportiert. Man kriegt das alles mit, es gab ja keine Abtrennung. Das Krasse dabei ist, dass die eine Leiche in der Zelle nicht sofort abtransportiert haben und der Leichnam ein, zwei Tage dort gelassen wurde.
Hans Mörtter
Es ist heiß da.
Sunday
Es ist ein bisschen schwierig, darüber zu berichten, für mich, und auch für die Leute, die das hören, weil das keine erfreuliche Geschichte ist. Tote Menschen – alles dient dazu, deine innere Kraft zu brechen und zu zeigen: Wir sind der Boss hier, wenn du Glück hast, dann bist du am Ende noch am leben, aber dein Geist ist gebrochen!
Hans Mörtter
Wie hast du in dieser Situation deine Würde wahren können? Wie konntest du als Mensch überleben?
Sunday
Da spielen auch wieder die Machenschaften der politischen Elite bei uns eine Rolle – zu der eben auch meine Eltern gehörten, sodass man dann was erkaufen konnte: "Man kennt sich, man hilft sich!" Und …
Hans Mörtter
Dein Vater hat geklüngelt, wie wir in Köln sagen, mit Geld und Beziehungen.
Sunday
Genau, und so hat er dafür gesorgt, dass ich ein bisschen gutes Essen bekomme und der "Präsident" praktisch darauf aufpasste, dass keiner mich anfasste, und dass es keine Vergewaltigungsversuche gab. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht den anderen Folterpraktiken ausgesetzt wurde, wie jeder andere Gefangene. Aber man sieht das bei anderen, man hört die Schreie, man erlebt alles mit! Auch wenn man selbst nicht vergewaltigt worden ist: Jeden Tag, wenn ich schlafe, habe ich diesen Albtraum von der Vorstellung solcher Gewaltakte.
Hans Mörtter
Der erste afrikanische Nobelpreisträger für Literatur, Wole Soyinka aus Nigeria – lebt inzwischen in Kalifornien und du bezeichnest ihn als deinen Lehrer. Er schreibt in seinem Buch "Klima der Angst“: "Der Angriff auf die menschliche Würde ist eines der wichtigsten Ziele in der Heimsuchung durch die Angst, ein Vorspiel zur Beherrschung des Geistes und zum Triumph der Macht, das ist das, was täglich geschieht!" Bist du in deiner Würde schwer verletzt, bist du unterworfen und besiegt, Sunday?
Sunday
Also, besiegt bin ich nicht. Es gab eine Zeit, wo ich wirklich... Heute muss ich sagen, ich danke Gott, dass er mir den Weg zu dir geleitet hat.. Dass ich die Kraft habe, dann …
Hans Mörtter
Dass du gegangen bist?
Sunday
Genau! Ich hätte gesagt: „Besiegt“, wenn einer der beiden Selbstmordversuche, die ich hinter mir habe, gelungen wäre, aber …
Hans Mörtter
Du hattest immer noch eine Hemmung, es konsequent durchzuziehen.
Sunday
Genau!
Hans Mörtter
Du hast die beiden Versuche abgebrochen, bevor es zu spät war.
Sunday
Und in dem Moment habe ich das Leben gewählt …