"Weil man sich Liebe und Zuwendung nicht kaufen kann"
Peter Clös
In der schon erwähnten Rede, die Sie in der Christuskirche in Hilpoltstein gehalten haben, erzählen sie vom Glück der Kinder und dem Glück mit Kindern. Da sprechen Sie von drei Säulen. Die erste Säule der Altersvorsorge ist die gesetzliche Rente, die zweite ist die Riesterrente oder Lebensversicherung und die dritte Säule ist das, was ich innerhalb meines sozialen Umfelds, Familie und Freunde, erlebe.
Renate Schmidt
Die drei Säulen sind die erarbeitete, die ersparte und die erlebte.
Peter Clös
Es doch heute so, dass Leute sich abrackern und meinen, dem System Beruf – Erziehung – Familie nicht mehr gewachsen zu sein. Man soll Partner sein, man soll auch Geld nach Hause bringen. Der Einzelne befindet sich, fast kafkaesk, im Kampf mit dem System. Er findet sich – was seine wahren Bedürfnisse angeht – in der heutigen Wirklichkeit nicht wieder. Kommt es jetzt nicht zu dem Paradoxon, dass wir mit Riesterrente und Lebensversicherung auf Jahre einen Zustand absichern, der uns schon heute nicht mehr gefällt? Beim Theater heißt es: Wegen großen Erfolgs prolongiert. Müsste es in so manchem Menschenleben nicht heißen: Trotz großen Misserfolges verlängert?
Renate Schmidt
Ich weiß nicht, was ein Leben ist, das ein Misserfolg ist. – Wenn bei den erarbeiteten und ersparten Säulen Defizite auftreten, können diese durch die erlebte Säule ergänzt oder ausgeglichen werden. Wenn diese dritte Säule wegfällt, wenn ich keine Familie habe, wenn ich im Alter mutterseelenallein bin, wenn ich keinen rechtzeitig aufgebauten Freundeskreis habe, dann hilft mir auch eine Altersversorgung der bestmöglichen Art nicht, weil man sich Liebe und Zuwendung nicht kaufen kann. Ein Leben, dass man einen ‚Misserfolg’ nennen könnte, ist eines, das dazu führt, dass man mutterseelenallein ist. Wenn man nicht rechtzeitig darauf geachtet hat, dass menschliche Beziehungen wichtiger sind als alles andere, wenn man nicht darauf geachtet hat, den Kontakt zur Familie und anderen Menschen zu halten und sich um Menschen zu kümmern, dann ist ein Leben unter Umständen erfolglos. Dann nützen einem alle Rackerei und alle anderen Dinge nichts. Natürlich sollte man dafür sorgen, dass man das Alter nicht in Armut verbringen muss, soweit das möglich ist. Aber man wird immer Lösungen finden, wenn man sich selber um andere Menschen gekümmert hat, die dann im Zweifelsfall auch etwas für einen tun.
"Partnerschaft und Liebe brauchen Zeit"
Peter Clös
Es sind große Schauspielkarrieren schief gegangen, weil Schauspieler*innen nicht begriffen haben, dass sie neben der Schauspielerei noch ein Leben haben sollten. Jeanne Moreau hat gesagt: "Das erste, was ich in meiner Karriere begriffen habe, war, dass ich ein Leben außerhalb der Karriere habe". Während Romy Schneider gesagt hat: "Im Film kann ich alles, doch im Leben nichts".
Renate Schmidt
Marilyn Monroe hat einmal gesagt: "Karriere ist etwas wunderbares, aber man kann sich in einer kalten Nacht nicht an ihr wärmen." Das bringt es eigentlich auf den Punkt. Man braucht nicht nur etwas für kalte Nächte, sondern auch für kalte Tage, woran man sich wärmen kann. Und das ist die Liebe und Zuneigung von Menschen, die einem nahe stehen. Insoweit muss man sich um die kümmern. Partnerschaft und Liebe brauchen Zeit. Ich hatte einmal einen Termin wahrgenommen an einem der kostbaren Tage, den mein Mann und ich eigentlich als Familientag vorgesehen hatten. Danach gab es ein Donnerwetter. Mein Mann meinte, dass ich mit meinen Koffern gleich in Bonn bleiben könne, wenn ich das noch ein einziges Mal machen würde, solange ich in dieser Funktion bin. Ich habe mich davor gehütet, das zu wiederholen. Man muss sich kümmern. Und wenn Leute sagen, dass sie keine Zeit für die Familie haben, keine Zeit für Menschen, die einem nahe stehen, dann sage ich, dass das schlicht und einfach eine Lüge ist. Man muss sich diese Zeit nehmen. Es gibt soviel Leerlauf und so viel unwichtiges Zeug neben all den Verantwortungen, dass man sich diese Zeit nehmen kann. Man hat immer Zeit – für das, was einem wichtig ist. Wir sollten uns, von diesem Keine-Zeit-Haben lösen.
"Politik für Kinder ist Politik für eine Minderheit in unserem Land"
Peter Clös
Ich bin ein hartgesottener Mensch und muss über sehr wenige Dinge weinen. Aber es gibt etwas, über das ich sofort weinen muss, wenn ich in der Zeitung lese, dass ein überforderter Vater sein dreijähriges Kind gegen die Wand geschleudert hat. Neulich sah ich in einer Illustrierten das Bild eines achtjährigen Kindes, das als dreijähriges Kind von der Polizei aus einer verwahrlosten Wohnung vor dem Hungertod gerettet wurde. Die Pflegeeltern sagen, dass es wahnsinnig schwer ist, dem Kind die Angst zu nehmen. Was können wir tun, dass wir solche Ergebnisse nicht mehr vorfinden?
Renate Schmidt
Bei dem, was Sie gerade geschildert haben, geht es mir ähnlich. Wir müssen die Mentalität in unserer Gesellschaft so verändern, dass Kinder endlich wieder vermisst werden. In unserem Land werden Kinder nicht mehr wirklich vermisst. Kinder sind zu einem Ausnahmetatbestand geworden. In gerade mal 22 % der Haushalte leben derzeit Kinder unterhalb des 18. Lebensjahres. Politik für Kinder ist Politik für eine Minderheit in unserem Land. In unserem Land findet man als kinderloses Paar in Begleitung einer mannshohen Dogge eher eine Mietwohnung als ein Paar mit zwei kleinen Kindern an der Hand und die Mutter ist wieder schwanger. Bei uns wird Verkehrslärm hingenommen, aber das Toben und Vergnügen von Kindern, das mit Lärm verbunden ist, wird gerichtlich verfolgt. In Hamburg musste eine Kindertagesstätte wegen Lärms geschlossen werden und das Oberwaltungsgericht gibt dem auch noch statt. Der Kinderlärm ist für die Umgebung unzumutbar, der Verkehrslärm nicht. Solche Mentalitäten müssen sich ändern, dann wird auch die Sensibilität größer. Ich gehöre zu denen, die im Bundestag die Mehrheit ausmachen, aber nicht die notwendige Zweidrittel-Mehrheit, dass wir die Kinderrechte als Grundrechte in unsere Verfassung aufnehmen müssten. Das würde nämlich die Rechtsprechung von Gerichten verändern, weil man dann gefährdete Kinder früher aus solchen Familien herausnehmen kann. Denn in der Abwägung von Kinderrechten und Elternrechten bekämen die Kinderrechte ein stärkeres Gewicht. Das sind alles kommunale Aufgaben, bei denen der Bund leider an bestimmten Stellen nicht ausreichend mitreden kann. Zur Zeit müssen die Jugendämter mit Kürzungen von 25 % umgehen, obwohl die Aufgaben größer geworden sind. Pfarrer Mörtter hat vorhin über die Defizite in der Bildung gesprochen. Mit den Kinderrechten als Grundrecht würden wir uns das nicht mehr leisten können. Wir könnten uns dann vielleicht auch nicht mehr diese bildungspolitische Kleinstaaterei leisten. Deshalb habe ich auch der Föderalismusreform damals nicht zugestimmt, weil ich genau das befürchtet habe. Jetzt sind wir nicht mehr in der Lage auf Bundesebene ein entsprechendes Programm zu verabschieden. Diese 20 Milliarden Euro, von denen vorhin gesprochen wurde, die sind im Prinzip da, wenn man das ein bisschen umschichtet. All diese Dinge wären möglich und deshalb sage ich, Kinderrechte gehören in die Verfassung. Ich bin auch der parteiübergreifenden Meinung, die etwas belächelt wird, aber von Roman Herzog, von Paul Kirchhoff u. a. unterstützt wird. Wir sollten ein Wahlrecht von Geburt an einführen, weil ich der Meinung bin, dass wir der Zukunft eine Stimme geben müssen. Wir müssen unseren Kindern eine Stimme geben, wenn wir in diesem Land etwas für die Kinder erreichen wollen.
Peter Clös
Dann könnte man auch gleich dafür Sorge tragen, dass ein Kind aus einer bildungsstarken Familie nicht eine sechs Mal größere Chance hat, Abitur zu machen, wie wir eingangs gehört haben.
Renate Schmidt
Bei gleicher Intelligenz! Natürlich haben Kinder auch unterschiedliche Begabungen und Fähigkeiten. Da könnten wir überhaupt einen Haufen Geld sparen. Wir geben in Deutschland nämlich nicht nur zu wenig für Bildung aus, sondern das Wenige auch noch falsch, es geht zu einem großen Teil an die Oberstufen der Gymnasien und zum Geringsten in die frühkindliche Förderung. Aber gerade in diesem Alter sind die Kinder am lernfähigsten. In diesem Alter bräuchten sie die bestmögliche Förderung. Da brauchen sie keine Kindergartengruppen, wo eine einzige ausgebildete Kraft und eine Kinderpflegerin arbeiten und zu zweit 25 Kinder betreuen. Die bräuchten kleine Gruppe, die müssten Zeit haben, die anspruchsvollen Bildungspläne, die es in allen Bundesländern jetzt gibt, auch umzusetzen. In Schweden gibt es in den Krippen eine Betreuungskraft für zwei, drei Kinder. Bei uns kommen auf eine Kraft über 10 Kinder pro Gruppe. Das kann ja nichts werden. Wir brauchen Zeit für Kinder, wir brauchen Geld für Kinder, wir brauchen übrigens auch mehr Zeit der Eltern für ihre Kinder. Für das letztere ist aber die Wirtschaft und nicht die Politik zuständig.
Peter Clös
Ich habe eine Anekdote gelesen, mit der ich das Gespräch abschließen möchte: Ein fiktives Parlament sitzt zusammen, um für das Land neue Gesetze auf den Weg zu bringen. Der Parlamentspräsident steht gerade vorne am Podium, da platzt die Nachricht herein, dass in wenigen Stunden die Welt unterginge, Gott vorbeikäme und das Jüngste Gericht anberaumen werde. Da sagt der Parlamentspräsident: Das ist ja wunderbar. Da krempeln wir jetzt mal die Ärmel hoch. Denn wenn Gott kommt, dann soll er uns bei der Arbeit finden.
Frau Schmidt, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch.
Redigiert von Helga Fitzner
Fotos: Hans Bayer