Seit den 1990-er Jahren hat die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland zugenommen und sich in Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und anderen Orten gezeigt. Seitdem steigt aber auch das bürgerschaftliche Engagement, das diesem Trend entgegenwirkt. In Köln ist das sehr ausgeprägt und es hat sich, besonders in den letzten anderthalb Jahren, eine Willkommenskultur für Flüchtlinge entwickelt. Das Aktionsbündnis #türauf will nun die zahlreichen Initiativen bündeln und ihnen insbesondere in den Social Media eine Plattform bieten: deswegen das Zeichen # Hashtag vor dem Namen „Tür auf“. Pfarrer Hans Mörtter bekommt von Skeptiker*innen aber immer wieder ein paar Sinnfragen gestellt, die Anlass zu diesem Interview sind.
Frage
Wenn man die Flüchtlinge willkommen heißt, animiert man dann nicht noch mehr, sich auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa zu machen?
Hans Mörtter
Das sehe ich nicht so. Die Flüchtlinge, die sich auf den Weg durch die Wüste und das tödliche Meer machen, wissen ganz genau um die Gefahren. Die Verzweiflung ist aber so groß, dass sie den möglichen Tod in Kauf nehmen, um nicht dort bleiben zu müssen, wo sie sind. Aufhalten lassen sie sich meiner Meinung nach nicht, solange sich in den Herkunftsländern nichts ändert.
Frage
Es herrscht vielfach die Meinung, dass es sich bei den meisten um Wirtschaftsflüchtlinge handelt.
Hans Mörtter
In Eritrea ist Krieg. Das sind keine Wirtschaftsflüchtlinge. Im Irak, in Syrien, im Sudan, in Libyen, im Nahen Osten brennt es. In anderen Ländern herrschen Unterdrückung und Folter. Wir haben Flüchtlinge aus Afghanistan, die früher unsere Streitkräfte unterstützt haben und jetzt nach deren Abzug für die Taliban als Kollaborateure gelten und verfolgt werden. Dazu kommt natürlich die Klimakatastrophe, die von den Industrieländern, also auch von uns, mit verursacht wird, die in Afrika für extreme Dürreperioden sorgt und die Saat vernichtet, oder die schweren Überschwemmungen in Pakistan und Bangladesch.
Frage
Die Liste der Beteiligung der Industrienationen an dem Elend ist lang. Riesige Fischfangflotten fischen vor den Küsten Afrikas die Meere leer. Es wird vielfach Landraub begangen, damit Kaffee und Kakao oder aber Tierfutter für unsere Massentierhaltung angebaut wird, sodass die dort ansässigen Menschen oft keine Lebensmittel für den Eigenbedarf anbauen können. Und wenn sie das schaffen, können sie mit den Dumpingpreisen der Produkte nicht mithalten, mit denen die EU ihre Märkte überschwemmt.
Hans Mörtter
Mich regen besonders die Kartoffeln aus Saudi-Arabien auf, die in Europa billig verkauft werden. Die werden natürlich nicht in der saudischen Wüste, sondern in Afrika gepflanzt. Die Menschen vor Ort verlieren so ihre Existenzgrundlage und Land, dass ihre Ahnen oft seit Jahrtausenden bewohnt und bearbeitet haben. Das liegt daran, dass es z. B. in Afrika kaum Besitzurkunden für Land gibt. Also noch mal: Wirtschaftsflüchtlinge sind das keine.
Frage
Aber das hat sich bei einigen Deutschen sehr eingebrannt.
Hans Mörtter
Wenn, dann ist das ein geringerer Teil. Die Flüchtlinge, mit denen ich zu tun habe, sind schwer traumatisiert und haben auch psychosomatische Beschwerden.
Frage
Ich muss noch mal darauf herumhacken: Der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung soll gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sein. Das belegen auch die steigenden Zahlen der Übergriffe. Die Flüchtlinge werden ja sogar in den Unterkünften vom Personal drangsaliert – hoffentlich sind das nur vereinzelte Auswüchse.
Hans Mörtter
Deswegen ist die Aufklärungsarbeit so wichtig und die Begegnung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Wenn wir sie und ihre Geschichten kennengelernt haben, können wir nicht mehr einfach so sagen, die müssen wieder zurück.
Frage
Die nehmen uns unsere Wohnungen weg, unsere Arbeitsplätze und unsere Sozialleistungen, heißt es.
Hans Mörtter
Das ist nicht der Fall. Das ist gelogen.
Frage
Nein? Das muss doch stimmen, wie kommen „die Leute“ denn sonst darauf?
Hans Mörtter
Weil sie einen Vorwand brauchen. Der überwiegende Teil der Flüchtlinge wird in Massenunterkünften untergebracht, in Containern und anderen Behausungen, die eigentlich gegen die Menschenwürde verstoßen. Die Städte fangen gerade erst an, menschengerechte Unterkünfte zu bauen.
Frage
Aber was ist mit unseren Hartz-IV-Empfängern?
Hans Mörtter
Die haben in Deutschland wenigstens ein Dach über dem Kopf und müssen nicht erfrieren und verhungern. Auch da habe ich viel Elend gesehen, aber da muss man sagen, Armut ist relativ. Deutschland ist das drittreichste Land der Welt, das scheitert nicht am Geld sondern am Willen. Es werden auch verarmte Deutsche aufgegeben, weil es viel zu wenig Sozialarbeiter*innen gibt. Das will ich nicht klein reden. Aber die „Belastung“ durch die Flüchtlinge ist viel geringer, als wir meinen. Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat e. V. sagt, dass nur 1 Prozent der Flüchtlinge in der Welt von der EU aufgenommen werden. Die größte Last tragen viel ärmere Länder, wie z. B. Jordanien. In Köln selbst sind es derzeit rund 6300 Flüchtlinge - in einer Millionenstadt.
Frage
Noch eine kleine Statistik. Man hat errechnet, dass die Geldsummen, die legale und illegalisierte Flüchtlinge in ihre Heimatländer schicken, deutlich höher sind, als unsere Entwicklungshilfe. Im Idealfall sorgt das dafür, dass deren Familien in ihren Heimatländern bleiben können.
Hans Mörtter
Da kann man gut ansetzen. Die illegalisierten Flüchtlinge müssen ja schwarz arbeiten. Wenn man die legalisierte, würden sie gerne Steuern zahlen.
Frage
Heute, viele Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, sind die Vertriebenen aus den Ostgebieten voll integriert. Die waren damals bei den Einheimischen gar nicht gelitten.
Hans Mörtter
Die Älteren, die das noch erlebt haben, sagen auch, dass sich jetzt das Gleiche wiederholt, was ihnen damals widerfahren ist. Sie haben lebensgefährliche Situationen überlebt und viele schrecklich Dinge gesehen. - Bei den heutigen Flüchtlingen kommt hinzu, dass sie nicht arbeiten dürfen und vor Eröffnung des Asylverfahrens lange Zeit keinen Deutschunterricht bekommen. Sie werden nur bei akuten Erkrankungen ärztlich behandelt, bei chronischen gar nicht, bei psychischen Erkrankungen nur in Extremfällen und wenn sich jemand für sie einsetzt. Aber wir sehen in den Flüchtlingshilfegruppen auch, dass gute Beziehungen zwischen Deutschen und Flüchtlingen entstehen. Für beide Seiten ist es eine Horizonterweiterung und stärkt die Wahrnehmung, dass wir uns gegenseitig als Menschen erkennen. Ich weiß von einem Fall, da hat ein junger Mann aus Eritrea seine Helferin als „Mama“ adoptiert. Die musste dann tatsächlich mit seiner richtigen Mama in Eritrea telefonieren, damit die beruhigt ist und weiß, dass es ihrem Sohn hier gut geht.
Ich muss jetzt gerade an die Industrie- und Handelskammer denken, die sagt, wenn in fünf bis sechs Jahren die nächste Welle von Verrentungen kommt, gehen uns massenhaft Facharbeiter*innen verloren, an denen jetzt schon Mangel herrscht. Unter den Flüchtlingen gibt es hochmotivierte Leute mit Lernwillen und Begabungen. Syrer und Iraner zum Beispiel sind oft hochgebildete Leute, da sind auch Krankenschwestern, Ärzte und Lehrer dabei. Die müssen erst ihre Qualifikation nach deutschen Standards nachweisen. Also, da müssen wir unsere deutschen Standards hinterfragen. Es muss doch möglich sein, dass ein syrischer Arzt hier in Deutschland praktizieren kann. Die Standards in Syrien vor dem Krieg lassen sich mit unseren durchaus vergleichen.
Frage
Sie sind schon lange an dem Thema dran. Sie haben 2006 einen
Tango-Gottesdienst zum Thema „Afrikanische Flüchtlinge“ abgehalten, und 2009 war Elias Bierdel im Talk-Gottesdienst. Der war damals der Vorsitzende von „Cap Anamur“ und 2004 in Italien inhaftiert worden, weil er 44 Flüchtlinge aus Seenot im Mittelmeer gerettet hatte und nun wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung zu vier Jahren Haft verurteilt werden sollte. - Sie sind schon lange für die Flüchtlingsfrage entbrannt. Gab es bei Ihnen einen konkreten Auslöser?
Hans Mörtter
Das wurde mir so richtig bewusst, als ich 1984/85 in Kolumbien gearbeitet habe. Aufgrund des Bürgerkrieges gab es viele „displaced persons“, die ihr Zuhause verloren hatten. Die waren zwischen die Fronten der Rechten und Linken geraten und das Drama der Flüchtlinge zeigte sich ganz klar, als ich sie in den Elendsvierteln traf. Die lebten im Getto und waren hoffnungs- und chancenlos. Ohne Sozialhilfe mussten sie zusehen, wie sie über den Tag kamen. Als ich dann nach Köln kam, ging es hier gleich los mit Kirchenasyl für Roma. Das war eine Herausforderung. Das längste Asyl mit einer Familie dauerte viereinhalb Jahre. Ein Horror. Da lernte ich es, Menschen wahrzunehmen, die aus ihrer Heimat weg mussten, weil das Leben dort nicht mehr möglich war.
Frage
Gab es in Kolumbien nicht einen Jungen, der Ihnen sogar etwas geschenkt hat?
Hans Mörtter
Das war ein Straßenjunge im Alter von ungefähr 13 Jahren, der seine Eltern verloren hatte. Der hatte das Glück, an einem der wenigen sozialen Angebote teilnehmen zu können und war in einer Werkstatt, in der er Figuren aus Ton herstellte. Ich kam da herein und sah eine Tonfigur, die mich direkt faszinierte. Das war das Abbild eines Straßenjungen, der in typischer Haltung am Straßenrand auf einem Baumstamm saß. Neben ihm war ein halbvoller Sack, in dem sich alle seine Besitztümer befanden. Ich drehte die Figur ganz fasziniert in meiner Hand herum und, was ich nicht bemerkt hatte, der Junge hatte mich die ganze Zeit beobachtet. Nachdem ich mich schon verabschiedet hatte und draußen war, lief der Junge hinter mir her und schenkte mir seine Figur. Er sagte: „Für dich, von meinem Herzen“.
Frage
Da gebot es sich auch nicht, ihm Geld dafür anzubieten.
Hans Mörtter
Nein, der wollte nichts verkaufen, sondern er hat sein Herz verschenkt. Das habe ich auch in meinem Herzen mitgenommen und es bewegt mich immer wieder.
Frage
Es zeigt ja, was für ein Potenzial auch in den ärmsten Menschen steckt, künstlerisch, aber auch menschlich.
Hans Mörtter
Ja, genau. Was ist das für eine toller Junge. Was für eine Weite, was für eine Großzügigkeit, was für eine Herzensverbindung. Er hat ein Band geknüpft und das hält bis jetzt. Diese kleine Figur auf meinem Schreibtisch gehört zu den kostbarsten Dingen, die ich besitze. Deswegen glaube ich, dass die Flüchtlinge uns bereichern. Das darf uns nicht daran hindern, zu fragen, wie es in den Herkunftsländern aussieht und wie wir mithelfen können, die Lage dort zu verändern. Da müssen wir über die Wirtschaftsordnung reden und den Internationalen Währungsfonds und wie sie alle heißen. Auch wenn wir jetzt mit #türauf und der Veranstaltung in der Kölner Philharmonie ein Zeichen setzen und ein Riesenbündnis fürs Menschsein geschaffen haben, ist dies kein Ersatz für staatliches Handeln. Es müssen nicht nur die Symptome, sondern die Ursachen angegangen werden. Frontex und die ganze Abwehr kosten Milliarden jedes Jahr. Das Geld könnte man sinnvoller ausgeben. Die meisten der Flüchtlinge wollen nicht zu uns kommen, sie müssen. Wenn Frieden in ihrem Land einkehrt, gehen viele auch wieder zurück und bauen auf. Das gab es schon mit den Flüchtlingen aus dem Kosovo, die temporäre Aufenthaltsgenehmigungen hatten und von denen die meisten in ihre Heimat zurückgekehrt sind.
Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, ein Signal in die deutschen Städte hinein zu setzen, ein Aufstehen der Bürger und Bürgerinnen zu erreichen, und ja, ich träume davon, dass wir damit einen Paradigmenwechsel einleiten, damit wir die Bilder von den vielen Bootsflüchtlingen im Mittelmeer nicht mehr sehen müssen.
Das Interview führte Helga Fitzner am 20. Mai 2015
Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner Philharmonie, Pfarrer Hans Mörtter, Birgit Meyer, Intendantin der Oper Köln, Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat e. V. bei der Pressekonferenz für die Willkommensmatinee, Foto: Helga Fitzner