Der heutige Predigt-Text steht im 1. Brief des Paulus an die Korinther, Kapitel 9, die Verse 24 – 27
Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen.
Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.
Soweit der Text und eine Vorbemerkung. Wenn ich in meiner Predigt auch ein wenig aus meiner Vita erzähle, dann nicht aus Eitelkeit, sondern weil ich es mit dem Dichter Max Frisch halte: „Das Allerpersönlichste ist auch das Allgemeinste.“
Im Verlaufe meines Lebens habe ich schon sehr viele Menschen kennengelernt. Manche nur flüchtig, aber es sind auch viele, die ich 20, 30 Jahre oder noch länger kenne. Eine Freundin sagte einmal zu mir: „Meine Tochter hat deine Stimme schon im Mutterbauch gehört.“ Was für ein schöner Satz! Und diese Tochter dann immer mal wieder zu sehen und auf einmal zu denken: „Oh, sie ist eine junge Dame geworden und sie hat schon ihren ersten Freund.“ Wie das so ist, im Fluss des ewig gleichen Lebens…
Die Menschen, die mir begegnet sind, erschienen mir immer so wie Heldinnen und Helden in einem Film oder Roman. Jeder von ihnen hält nicht mehr als sein eigenes, kleines Leben in Händen, aus dem er versucht, das Beste zu machen und glücklich zu werden. Auf die jeweils spezifische Art und Weise. Von außen sieht das manchmal so aus, als würde jemand vor sich hin wurschteln, aber es ist eben auch nicht einfach, es ist auch Kampf. Manchmal der Kampf ums pure Überleben, manchmal das Ringen um die eigene Identität und dem, zu ihr auch zu stehen. Kampf um Bildungsmöglichkeiten, der Konkurrenzkampf um einen Arbeitsplatz. Der Kampf oder sagen wir in dem Fall besser: das Werben um den Mann oder die Frau, die wir lieben. Das ist auch nicht in jedem Fall so einfach, denken wir nur mal an unterschiedliche Hautfarben oder an gleichgeschlechtliche Liebe. Sogar bei uns würde der eine oder andere Vater oder die Mutter noch schlucken und sagen: „Muss das denn ausgerechnet der sein?“ Da kann ein Liebender natürlich nur eines drauf antworten: „Der und kein anderer.“
Manche Kämpfe müssen ausgefochten werden, bei anderen denkt man im Nachhinein: „Schade um die verlorene Zeit.“ Wofür also lohnt es sich zu kämpfen? Vor vielen Jahren kreuzte eine bemerkenswerte alte und weise Frau meinen Weg. Sie war als junge Frau in einem Arbeitslager und musste dort Zwangsarbeit leisten, ihr Vater war Jude. Trotz allem, was sie erlebt hatte, war sie innerlich frei, ohne Groll und Verbitterung. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie sagte: „Mach eine Liste und schreibe dir auf, welche Wünsche und Träume du hast. Wenn die Liste fertig ist, fang an zu streichen. Das, was man in der Gesellschaft so haben muss: weg damit! Das, was nicht wirklich wichtig ist: weg damit! Streiche so lange, bis nur noch deine Herzenswünsche auf der Liste stehen.“
Die Herzenswünsche. Die Träume, die aus dem tiefsten Inneren kommen. Welcher von ihnen ist mir so wichtig, dass ich alles für ihn tun würde, was in meiner Macht steht? Mein großer Traum war immer, einen Roman zu schreiben. Ich malte es mir auch lebhaft aus, wie es wäre: Nr. 1 auf den Bestseller-Listen, Lesereisen, begeisterte Kritiken, prall gefülltes Konto, Ruhm, Ehre. In solchen Bildern kann man wunderbar schwelgen. Ich habe etliche Anläufe unternommen, um Nr. 1 zu werden: Super-Ideen, Super-Themen, die großartigsten Weisheiten und Erkenntnisse, die mir aus der Feder flossen. Ein einziges Mal habe ich es geschafft, ein Manuskript fertig zu stellen – und dann wollte es keiner haben! Bei allen anderen Projekten fehlte mir das Durchhaltevermögen und ich kam über das 1. Kapitel nie hinaus. Nicht mal 4., 5., letzter Platz auf der Bestsellerliste, nein, noch nicht mal mit im Rennen. Ist das nicht herrlich?
Was macht man mit den geplatzten Träumen? Ich glaube, dass zum Lebenskampf unbedingt auch die Lebenskunst gehört. Sich selbst zu sagen: „Schätzchen, du hast dein Ziel nicht erreicht. Aber du hast es versucht. Hättest du es noch nicht einmal versucht, wäre es weitaus schmerzhafter, weil du immer denken würdest, etwas verpasst zu haben. Verabschiede dich von diesem Traum, aber sei stolz auf dich, denn du hast viel Arbeit und Mühe investiert. Und auch, wenn das erwünschte Ergebnis nicht dabei heraus gekommen ist: Du hast getan, was du tun konntest. Und irgendwann kommt auch etwas anderes.“
Ich habe es selbst erlebt, dass etwas anderes kam: vor anderthalb Jahren, durch die Fahrt nach Maria Laach, wo die drei neuen Glocken für den Turm der Lutherkirche gegossen wurden. Für ein Online-Magazin habe ich einen Artikel über den Glockenguss geschrieben. Die Redaktion fand den Artikel so toll, dass sie mich fragte, ob ich nicht Theater-Kritiken für sie schreiben wollte, sie suchten noch jemanden, der das übernimmt. Ich habe sofort Ja gesagt, weil ich wusste, dass ich es kann und auch nicht so sehr viel Durchhaltevermögen dafür brauche. Aus dem geplatzten Traum wurde somit ein erfülltes Träumchen. Zufall, Schicksal oder: unerforschlich sind die Wege des Herrn? Ich weiß es nicht, aber ich bin ganz und gar zufrieden damit.
Wenn man Lebenskunst begreift als innere Haltung, die ich selbst bestimmen kann, die also nicht abhängig ist von äußeren Gegebenheiten, dann kann ich mich immer wieder neu ausrichten. Ziele neu festlegen und selbst bestimmen, ob ich mit meinem Leben zufrieden bin oder nicht. Es gibt nichts Schlimmeres, als mit Vergangenem zu hadern. Man ist mit seinem Hadern dann so gebunden an Menschen, an Umstände, dass man nicht im Hier und Jetzt lebt und das eigene Leben nach Gift und Galle schmeckt.
Ich möchte frei sein. D. h. für mich nicht, tun und lassen zu können, was ich will. Nein, es gibt Regeln, ohne die z. B. Gemeinschaft nicht möglich ist. Daran halte ich mich, weil sie für mich ein hohes Gut sind. Aber ich möchte innerlich frei sein. Entscheidungen ohne Angst oder äußere Zwänge treffen können. Die schwersten Kämpfe tragen wir womöglich mit uns selbst aus, weil jede Entscheidung Konsequenzen hat und bei manchen Entscheidungen ganz klar ist: ich muss mit dieser Entscheidung auch leben können.
Es dürfte Ende der 80er Jahre gewesen sein, als ich einen Anruf bekam und gefragt wurde, ob ich an einer Demonstration teilnehmen würde. Die Volkshochschule am Neumarkt hatte den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Unabhängig von Sterbehilfe ja oder nein, es war bekannt, dass dieser Mann Menschen mit dem Wunsch zu sterben, Zyankali-Kapseln verkaufte. Pro Kapsel nahm er 3.000 Mark, machte also aus dem Wunsch der Menschen nach einem würdigen Tod ein Geschäft. Ich fand es mehr als empörend, dass die Volkshochschule ihm ein Forum bot und ging zur Demonstration.
Damals hatte ich eine Stelle an der Volkshochschule, plötzlich kam meine Fachbereichsleiterin auf mich zu und sagte: „Das ist ja wohl ihr Werk.“ Obwohl mir ihr Zutrauen zu diesem Werk sehr schmeichelte, schoss mir als erster Gedanke durch den Kopf: „Ich muss sofort richtig stellen, dass ich es nicht gewesen bist, sonst schmeißt sie mich noch raus.“ Zweiter Gedanke: „Ist mir doch egal, was sie denkt. Soll sie mich doch raus schmeißen, die Welt ist groß und weit, geh ich eben woanders hin und wenn es Honolulu ist.“ Ich habe sie in ihrem Glauben gelassen und das war es mir wert. Denn ich habe nicht alleine da gestanden, ich habe mit anderen da gestanden, die ebenso wie ich davon überzeugt waren, dass man aus Leben und Sterben kein Geschäft machen darf.
In unseren Kämpfen sind wir ja nicht immer nur auf uns allein gestellt. Wenn es um existentielle Dinge geht, um Frieden und Gerechtigkeit, finden sich andere, die sich an unsere Seite stellen. Immer. Und das ist auch mein sehnlichster Wunsch für diese Zeit mit ihren großen Herausforderungen. Mit seinen Ängsten und Sorgen vor dem, was kommt, ist jeder allein. Nicht aber mit dem Wunsch, in dieser Gesellschaft friedlich in Koexistenz mit anderen zu leben. Und diesen Wunsch haben die allermeisten Menschen! Schützen müssen wir uns vor denen, die gewalttätig sind. Schutz gewähren denen, die Opfer geworden sind oder es werden könnten. Dazu brauchen wir Gottes Hilfe und Beistand, um die wir nur immer wieder bitten können. Doch vergessen wir eines nicht: so wie wir Gott brauchen, so braucht auch er uns. Unsere Worte und Taten, was wir tun und lassen. Ohne geht es nicht.
Möge Gott uns mit seinem Geist und mit seiner Kraft erfüllen, dass wir das Richtige sagen und tun. Amen.