Hans Mörtter
Lale Akgün war Bundestagsabgeordnete für die SPD. Aber es ist natürlich schwierig für eine etablierte Partei, so jemanden wie Lale auszuhalten (amüsiertes Gelächter). Sie denkt nämlich frei und sie redet frei. - Lale, geht es um Religion bei den Anschlägen in Paris? Was passiert da und warum passiert das? Warum gibt es junge Menschen, die so tödlich hassen?
Lale Akgün
Es geht um ganz vieles, es geht um Verzweiflung, es geht um Unwissenheit und es geht um Verführung. Verführung ist ein ganz wichtiges Stichwort. Ich bin überzeugt davon, dass die vielen jungen Terroristen von anderen, dem politischen Islam missbraucht und eingesetzt werden. Da man eine Ideologie haben muss, um etwas zu rechtfertigen, bietet sich Religion immer als Rechtfertigung an, auch für Gewalttaten. Gott ist die höchste Ebene, der man nichts mehr entgegenstellen kann. Und so wird im Namen Gottes gemordet.
Hans Mörtter
Wenn man die Herkunft der Attentäter auf die Redaktion von Charlie Hebdo berücksichtigt, sieht man, dass die alle aus prekären Verhältnissen stammen mit Armut und teilweiser Heimerfahrung, also eine lieblose Kindheit hatten. Dazu die Perspektivlosigkeit, was Ausbildung und Beruf angeht.
Lale Akgün
Ja, das ist richtig. Aber Perspektivlosigkeit ist noch keine Entschuldigung für Gewalt. Es gibt viele Kinder, die im Heim groß werden, aber da werden längst nicht alle gewalttätig. Ich habe hier in Köln lange in sozialen Brennpunkten gearbeitet, ich bin ja Diplom-Psychologin, und habe mit vielen prekären Familienverhältnissen zu tun gehabt. Es ging längst nicht allen Kindern gut, aber nicht alle Kinder waren empfänglich für Gewaltideologien. Perspektivlosigkeit kann mit ein Grund sein, aber es ist keine Entschuldigung. Natürlich sind Menschen, die aufgeklärt und gebildet sind, besser geschützt vor Rattenfängern, aber auch nicht immer. Es gibt auch gebildete Menschen, denken Sie nur an Atta, der 2001 den Anschlag auf das World Trade Center mit verübt hat, der war ein gebildeter Mensch. Wir versuchen im Nachhinein Erklärungen zu finden, warum Menschen so schreckliche Dinge tun, warum sie nicht ertragen können, dass andere Menschen eine andere Meinung haben. Mich macht es besonders traurig, dass gerade diejenigen, die versuchen dem Leben eine andere Perspektive abzugewinnen, mit ihrem Leben bezahlen müssen. Karikaturisten sind ganz besondere Menschen, sie sind Künstler, die künstlerisch das darstellen wollen, was das schönste Geschenk des Lebens ist: Das ist der Humor.
Hans Mörtter
Die Satire hält uns den Spiegel vor. Aber Menschen, die nicht über sich selbst lachen können, die haben ja keinen Humor. Trotzdem, wie kommt es, dass junge Menschen in den Nahen Osten in ein Ausbildungslager von Al Kaida gehen und sich zu Selbstmordattentätern oder tödlichen Kämpfern ausbilden lassen. Wo sind die Wurzeln davon? Wieso funktioniert das? Es ist zwar nicht die große Masse...
Lale Akgün
… es ist nicht die große Masse, es können aber auch ganz wenige unseren Alltag terrorisieren. Ich habe mir gestern überlegt, was passieren würde, wenn bei uns jemand die so genannten „weichen Ziele“ angreifen würde, ein Kaufhaus, eine Schule. Das würde uns in Angst und Schrecken versetzen und Entfremdung verursachen. Mir hatte nach 9/11 eine Freundin erzählt, dass sie die Straßenseite wechselte, als sie ein paar dunkelhäutige Männer auf sich zukommen sah. Die Saat der Angst geht auf und bringt Entfremdung in die Gesellschaft. Heute wird ja viel über den Ursprung des islamischen Terrors diskutiert. Da kann man an jedem Zeitpunkt anfangen, man kann, wenn man will, bis zu den Kreuzzügen zurückgehen. Das alles sind Erklärungsversuche, woher dieser Hass kommt. Bei allen Erklärungsversuchen müssen wir klarstellen - und ich sage das als bekennende Muslimin – dass sich diese Menschen auf den Islam berufen. Wir als Muslime und Musliminnen müssen uns mit dieser Frage auseinandersetzen. Wir dürfen nicht so tun, als hätte das alles nichts mit uns zu tun. Es ist unsere Pflicht und unsere Aufgabe zu sagen, es gibt eben Menschen, die den Koran ganz anders interpretieren, als wir es tun, die vielleicht verführt werden von bestimmten Ideologen, ihn gewaltsam auszulegen. Wir liberalen Muslime müssen dafür sorgen, dass wir uns mit unserer Sichtweise - nämlich der Sichtweise des friedlichen Islam - in der Gesellschaft eine größere Stimme verschaffen und noch viel mehr Muslime von unserer Sichtweise überzeugen. Meine große Befürchtung ist, dass solche Anschläge eine Entfremdung bringen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Deswegen bin ich sehr glücklich, heute hier sein zu dürfen, denn das zeigt mir, dass wir zusammenstehen, dass die Menschen, die gläubig sind und an einen liebenden und liebenswerten Gott glauben, dass die beieinander stehen. Und mir sind Christen und Christinnen, die an einen liebenden Gott glauben, natürlich viel näher als irgendwelche islamistischen Terroristen. (Applaus).
Hans Mörtter
Es ist mir auch sehr wichtig, dass wir seit circa zwei Jahren Seite an Seite stehen, im Hören aufeinander, und auch im Stellung-Beziehen in unserer Zeit und unserer Gesellschaft, um damit andere Signale zu setzen. Es sind nicht nur Mörder, Attentäter und Terroristen, die mit dem Islam argumentieren, da gibt es im Libanon Christen, die Massaker begangen haben. In Sabra und Schatila waren palästinensische Flüchtlingslager, die von der israelischen Armee bewacht wurden mit Panzern und Scheinwerfern. Da haben Christen unter den Palästinensern im Jahr 1982 ein Blutbad angerichtet und Kinder, Frauen und Männer mit Maschinengewehren ermordet. Das geschah im Namen des christlichen Gottes. Oder der chilenische Diktator Pinochet, ein Katholik, der sein eigenes Volk ermorden ließ, junge hoffnungsvolle Menschen. Das ist vorbei, aber für mich ist das noch nicht lange her. Dann Elisabeth Käsemann, die Tochter des bekannten Theologen Ernst Käsemann, die 1977 während der Militärdiktatur in Argentinien gefoltert und ermordet wurde. Die Verantwortlichen wurden erst vor wenigen Jahren verurteilt. Es ist nicht die Frage nach einer bestimmten Religion. Denn auch im christlichen und im jüdischen Glauben heißt es, „Aug' um Auge, Zahn um Zahn“. Gleichzeitig aber „Du sollst nicht töten“. Wir müssen nur lernen, mit unseren Schriften umzugehen, sie zu verstehen, sie in den Kontext zu setzen und sie miteinander zu lesen und neu zu lesen. Ich glaube, das ist es.
Lale Akgün
Das kann ich unterstreichen. Wir „säkularen“ und demokratischen Gläubigen, - damit meine ich diejenigen, die die Trennung zwischen Religion und Politik und den Rechtsstaat akzeptieren und ganz wichtig: die Menschenrechte respektieren – wir müssen zusammenhalten und gegenüber den radikalen Kräften zusammenstehen. Bei jeder Religion ist es wie bei einer Medizin, es kommt auf die Dosis an. Wenn man die Dosis übertreibt, dann kann die Wirkung tödlich sein. Deswegen muss man immer wieder das Leben in den Mittelpunkt des Glaubens stellen. Das Leben, und sich verändernde Lebensweisen, müssen im Mittelpunkt des Denkens stehen. Damit muss sich auch Theologie dem Neuen anpassen, das heißt, ändern dürfen. Man kann nicht stur nur an Traditionen festhalten wollen und man darf nicht einer höheren Macht dienen wollen, koste es, was es wolle. Es ist so absurd, dass die Selbstmordattentäter meinen, sie würden durch ihre Taten Gott dienen. Der Glaube darf nie Menschenleben kosten. Er darf auch nicht dazu instrumentalisiert werden, andere auszuschließen. Es geht ja im Kleinen los, dass man Andersgläubige verachtet oder sich von ihnen entfernt oder Mauern baut, wo keine sein sollten. Immer nach dem Motto: wir sind anders, wir dürfen uns mit den anderen nicht gemein machen. Diese Sichtweise ist falsch, falsch, falsch. Man kann das nicht oft genug wiederholen. Wir sind alle Gottes Kinder. Wir müssen das Gemeinsame schon im Alltag suchen, indem wir einander besuchen und zusammen das Brot brechen. Das sind wichtige Dinge. Je fremder man sich fühlt, desto weniger kann man aufeinander zugehen. Wenn ich hier heraus gehe nach der gemeinsamen Taufe, werde ich eine andere sein. Das Taufkind hat mich wieder ein Stück verändert. Es ist wichtig, das zu verstehen, damit wir unsere Gesellschaft zum Guten führen können. (Applaus).