Hans Mörtter
Erst einmal freue ich mich riesig, dass du hier bist auf unserem roten Stuhl. Wir stellen heute dich und den von dir gegründeten Verein medica mondiale vor. Ich wollte dich nach deiner Motivation fragen, wie du auf dieses Frauenthema aufmerksam geworden bist und auch deine Lebensaufgabe damit gefunden hast. Ich nehme an, dass deine Großmutter da eine große Rolle gespielt hat.
Monika Hauser
Die Motivation setzte sich aus vielem zusammen, aber sexualisierte Gewalt und Krieg waren für mich schon vor Bosnien, also vor Herbst 1992, immer wieder präsent. Meine Eltern sind in den 1950-er Jahren als Arbeitsmigranten aus Südtirol in die Ostschweiz gegangen, weil Südtirol damals im Unterschied zu heute bitterarm war. In den Ferien waren wir immer bei meiner Südtiroler Großmutter und sie erzählte mir von der Gewalt, die sie erlebt hat. Das war wohl der Ursprung, dass sich bei mir so eine Art Sensoren entwickelt haben und ich schon früh wusste, dass Frauenleben und sexualisierte Gewalt irgendwie zusammengehören. Ich habe dann auch von Tanten gehört, deren Dienstherren übergriffig waren, wodurch ich recht früh darauf aufmerksam wurde. Als ich dann als junge Ärztin in diversen Kliniken gearbeitet habe, sei es im Regionalkrankenhaus in Südtirol, in dem ich mein Praktisches Jahr gemacht habe, als auch später in der Ausbildung zur Gynäkologin in der Uniklinik in Essen, habe ich von den Patientinnen immer wieder von sexuellen Übergriffen, von psychischer Gewalt durch ihre Väter, ihre Partner, ihre Onkel...
Hans Mörtter
Da hake ich mal schnell ein. Die Ärzte sind ja die Götter in Weiß. Da kommt es doppelt schlimm: Die Frauen sind auf sie angewiesen, aber die schweigen dazu. Aber du hast nicht geschwiegen! Du hattest den Spitznamen „die rote Hexe“.
Monika Hauser
Ja. Das kam früh zusammen, dass ich auf der einen Seite das große Ausmaß von Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen und Mädchen gesehen habe, auf der anderen Seite die Strukturen, die mir klar aufgezeigt haben: 'Schweig, darüber sprechen wir hier nicht'. Im ländlichen Südtirol wie auch in der Uniklinik. Als ich nach Essen kam, hatte ich gedacht, dass diese Themen jetzt alle vorbei wären. Hier gäbe es eine aufgeklärte, emanzipierte Gesellschaft. Ich habe schon früh gewusst, dass ich Medizin nicht im üblichen schulmedizinischen Sinne machen will, sondern dass man auf das Leben der Patientinnen schauen muss, also der psychosoziale und psychosomatische Blick, dass die Erlebnisse, die die Menschen in sich tragen, mit ihrer gesundheitlichen Situation etwas zu tun haben und dass jetzt hier alles anders wird. Dann habe ich aber gemerkt, dass an dieser Uniklinik eigentlich die patriarchalischen Strukturen weitergingen und man sich nicht mit dieser Gewaltthematik auseinandersetzen wollte, und man mit dem Finger auf die gezeigt hat, die darüber gesprochen hat, und mich zum Schweigen bringen wollte. Ich habe mich in meinen Krankenhauszeiten radikalisiert. Durch diese Strukturen habe ich mich radikalisiert, weil ich wusste, dass ich so keine Medizin machen wollte. Das ertrage ich nicht, dass mit den Patientinnen so abwertend und respektlos umgegangen wird. Ich habe sehr respektloses Verhalten erlebt, dem ich wirklich etwas entgegensetzen wollte, was natürlich als junge Assistenzärztin oder als Medizinerin im Praktischen Jahr sehr schwierig ist. Ich habe mit den Frauen zu reden angefangen. Der katholische Pfarrer in meinem Heimatdorf in Südtirol kam irgendwann einmal zu mir und meinte, die Frauen würden ihm gar nichts mehr erzählen. Die würden nur noch sagen, dass sie mit der Ärztin im Regionalkrankenhaus reden, und das fände er doch sehr komisch. Warum ich denn die Frauen so aufwiegeln würde. Da kam dann die rote Hexe mit ins Spiel.
Hans Mörtter
Das soll sehr lautstark zugegangen sein, weil die Leute draußen hören konnten, wie ihr diskutiert habt. Da sind die Fetzen geflogen.
Monika Hauser
Solche Szenen gab es. Man kommt, wenn man die Dinge beim Namen nennt, schnell in diese Situation, dass das nicht akzeptiert wird, sei es vom Pfarrer, sei es vom Chefarzt, später vom Politiker. Es geht durch die ganze männliche Bank sozusagen, dass die Realitäten nicht angeschaut werden wollen. Da war ich natürlich immer ein Dorn im Auge. Ein liberianischer Minister hat mir einmal gesagt, als wir unser Projekt in Liberia eröffnet und ihm ein paar Realitäten seiner weiblichen Bevölkerung erzählt haben: „You are a mosquito in my ear“. (Sie sind ein Moskito in meinem Ohr).
Hans Mörtter
Noch einmal zurück zu deiner Familie. Du schreibst vom Onkel, der übergriffig war. Du hast dagegen gehalten und er sagte dir: 'Sei nicht so kratzbürstig'. Als zweites noch die Frage nach dem Großvater, der ja eigentlich der liebe Opa sein sollte, zu dem die Enkelkinder normalerweise ein besonders gutes Verhältnis haben. Wie hat sich das Bild des Großvaters geändert durch das, was die Großmutter erzählt hat?
Monika Hauser
Es war schwierig, das zusammen zu kriegen, dass er eben nicht der liebe Opa war nach allem, was die Großmutter über ihn erzählt hat. Das war eine Kluft, die ich nur schwer überwinden konnte. Was die Kratzbürstigkeit beim Onkel angeht, glaube ich, dass die Frauen meiner Generation das kennen, ich würde auch sagen, dass das bis heute so geht. Ein Cousin, ein Onkel, die Getätschel als harmlose Geste verkaufen. Gewalt beginnt immer da, wo die Frau oder das Mädchen sich schlecht bei fühlt, insbesondere wenn es keine selbst gewählte Umarmung oder Berührung ist. Ich habe schon früh gewusst, dass ich das nicht akzeptiere. Und das ist nichts Singuläres, was ich hier erzähle. Wenn ich hier in die Runde schaue und das Nicken der Frauen sehe, dann weiß ich, dass das viele erlebt haben und dass das etwas ist, was unsere Gesellschaft prägt. Es wurde erst 2014 die erste EU-weite Studie durchgeführt zum Ausmaß des Erlebens von sexualisierter Gewalt von Frauen in europäischen Ländern. Diese Studie hat nachgewiesen, dass jede zweite bis dritte Frau einmal oder mehrmals in ihrem Leben Gewalterfahrungen macht. Welches Land, meinst du, hat in dieser Studie die höchste Gewaltzahl der untersuchten europäischen Länder gehabt? (Allgemeines Achselzucken). Das ist ein Land, an das man zunächst einmal nicht denkt: Dänemark. Warum Dänemark? Weil Dänemark die aufgeklärtesten Strukturen hat, innerhalb derer die Frauen sich am ehesten trauen, zur Polizei zu gehen, in dem Wissen, dass sie dort auf weibliche Beamte treffen, die sensibilisiert sind, sich getrauen, einen Prozess anzustrengen. Die Frauen wissen, dass es dort Richter und juristisches Personal gibt, die nicht das Opfer angreifen oder lächerlich machen: 'Du hast es doch auch gewollt. Warum bist du noch so spät am Abend'... und all das. Das ist tief in unserer Gesellschaft verankert, diese Mythen über sexualisierte Gewalt, dass die Frau oder das Mädchen irgendetwas getan haben muss und selbst daran schuld ist. Dänemark hat die aufgeklärteste Gesellschaft, wo die meisten Frauen zur Beratung gehen, und trotzdem hat es so viel Gewalt.
Hans Mörtter
Deutschland ist eine Gesellschaft, in der der Geschlechterdialog noch nicht so weit vorangeschritten ist, wo auch die Dunkelziffer entsprechend hoch ist. Und in Dänemark wird es trotzdem noch eine Dunkelziffer geben.
Monika Hauser
So ist es. Die Vision einer Geschlechtergerechtigkeit, die das Ziel von medica mondiale ist, muss in der Reflexion einer Politik, einer Gesellschaft vorkommen, um überhaupt etwas verändern zu können. Wenn ich das gar nicht in meiner Vision drin habe, werde ich die Dinge auch gar nicht als Gewalt erkennen. Vielleicht noch ein Wort zum Begriff „Missbrauch“: Ich habe mit diesem Begriff große Schwierigkeiten, weil er voraussetzt, dass es für Frauen und Kinder einen „Ge-brauch“ gäbe. Gleichzeitig weiß ich, dass Überlebende den Begriff brauchen, weil der 20 bis 30 Jahre lang ihr Leben begleitet hat und sie dadurch ein Wort für das Verbrechen haben, das an ihnen begangen wurde. Ich denke in 20 Jahren sind wir vielleicht schon weiter, um die Dinge anders beim Namen zu nennen. Dann können wir sexualisierte Gewalt sagen. Früher hat man Dinge, die wir heute klar beim Namen nennen, gar nicht als sexualisierte Gewalt erkannt. Das hat immer auch mit den Reflexionen über den Zustand einer Gesellschaft zu tun.
Hans Mörtter
Was müsste sich ändern? An Schulen zum Beispiel.
Monika Hauser
Auf allen Ebenen bräuchten wir Reflexionen. Schulen sind ein extrem wichtiger Ort. Wenn wir aber noch nicht einmal den Lehrerinnen Supervisionen zugestehen, dass sie über das sprechen können, was für sie belastend ist, wie können wir dann Reflexionsbereitschaft erwarten? Wenn wir diesen Beruf weiterhin so abwerten und nicht ordentlich bezahlen, wie können wir dann erwarten, dass auch Männer in diesen Beruf gehen. Also Männer sind einfach viel seltener Grundschullehrer, weil es ein abgewerteter Beruf ist, wie Pflegerin, Kindergärtnerin usw. All diese Berufe, die so wichtig sind, weil sie die Reflexionskraft der nächsten Generation eigentlich garantieren würden, sind bei uns schlecht angesehen, haben keinen großen Wert. Das heißt, man muss diesen Berufen erst einmal einen Wert geben. Es hilft auch nicht, nur Männer als Pädagogen einzusetzen, es müssen Männer sein, die ihr Geschlechterverhältnis reflektieren. Genau so wie die Frauen natürlich. Der erste Schritt wären nicht Module zur Reflexion und zur Fortbildung bei den Kindern, sondern erst einmal zur Ausbildung beim Lehrpersonal selbst. Damit die wissen, wenn sie sich dahin stellen, dass sie für die Kinder schon etwas darstellen. Alleine schon, wie eine Person dasteht und was sie verkörpert. Hier werden viele Möglichkeiten verpasst.
Hans Mörtter
Beim Verhältnis von Krankenschwestern und Ärzten gibt es immer wieder Probleme. Erst einmal gibt es immer wieder mal ein Fisternöllche (kölsch für heimliche Liebeleien) zwischen denen in der Hoffnung, dass da was draus wird. Dann die sitzen gelassenen Frauen, Schwestern wie Ärztefrauen. Es spiegelt immer noch eine rückständige Gesellschaft wider.
Monika Hauser
Hans, da hat sich einiges verändert in den letzten Jahren, was sich aber kaum verändert hat, ist die Chefetage. In der Gynäkologie haben wir mehr als 50 % Frauen auf den Stationen, aber wir haben nur wenig Chefärztinnen auf den Top-Positionen. Ich kenne einige Kolleginnen, die zwar Oberärztinnen wurden, dann aber lieber weggingen und eine eigene Praxis eröffneten, weil allein die Arbeitszeiten in Krankenhäusern schon nicht familienfreundlich sind. Man kann auch sagen, lebensfeindlich sind, denn nicht alle Kolleginnen haben Kinder. Das gilt beileibe nicht nur in der Medizin. Insgesamt müsste man mit sich selber in besseren Kontakt kommen. Warum fällt das so vielen schwer? In erster Linie Männern, aber nicht nur. In Kontakt mit sich selber zu kommen, ist eine Herausforderung. Stattdessen ständig zu arbeiten bis hin zur Überarbeitung, kann einer solchen Selbstreflexion entgegenstehen. Gleichzeitig wissen wir, dass viel zu tun ist, deswegen arbeiten wir beide ja auch viel. Aber der Weg über den Kontakt zu sich selbst ist unerlässlich. Gerade um in sozialen Berufen so tätig zu sein, dass man sich immer wieder Rechenschaft darüber gibt, warum mache ich diese Arbeit eigentlich.
Hans Mörtter
Du bist ja sehr früh in die Außenseiterinnenrolle geraten. Das kenne ich auch. Wie bist du damit klar gekommen, mit der Infragestellung deiner Person, die damit auch verbunden ist? Bis hin zum Verlust von Freunden. Und wo findest du dich selbst, wo ist da noch Raum in all dem für dich selbst, für deine Beziehung, wie schaffst du dir Raum?
Monika Hauser
Im Moment rase ich nicht so durch die Gegend. Dieses Jahr ist wirklich ein Ausnahmejahr. Für mich ist es aber ansonsten wichtig, die Kolleginnen vor Ort zu besuchen, miteinander im Dialog zu sein, es gibt mittlerweile ein weltweites medica-Netzwerk mit den Projekten von Bosnien, Afghanistan, Kongo, Liberia und Nord-Irak. Da ist der Austausch sehr wichtig, um zu erfahren, welche Strategien tragen, wo es Probleme gibt, wo man voneinander lernen kann. Das nährt meine Motivation sehr. Wir arbeiten zwar an verschiedenen Orten und haben verschiedene Rollen, aber wir haben alle das gleiche Ziel. Wir spüren da auch eine starke Solidarität in diesem Netzwerk. Mir gibt es natürlich auch Kraft, dass ich einen Partner habe, der seit 25 Jahren hinter mir und neben mir steht, und der damals auch entschieden hat, die Familienarbeit zu übernehmen. Das ist immer noch nicht selbstverständlich. Ich hätte diese Organisation nicht aufbauen können, eine lebendige Partnerschaft und ein Kind haben, wenn ich nicht einen Partner gehabt hätte, der das Management übernommen hat, und er ist mir ein wichtiges politisches Gegenüber. Ein Feminist, der patriarchalische Strukturen sehr klar durchschaut, und es tut manchmal gut, einen männlichen Ratgeber zu haben, der mich auf Dinge hinweist und mir hilft, männliche Realitäten zu durchschauen. Das ist für mich sehr wichtig und das schafft mir auch Räume, im Urlaub zwei Wochen mit der Familie mal ganz weg zu sein. Das nehme ich mir immer wieder zum Auftanken.
Hans Mörtter
In dem Buch „Monika Hauser – Nicht aufhören anzufangen - Eine Ärztin im Einsatz für kriegstraumatisierte Frauen“ von Chantal Louis steht, wie ihr in der ganz heißen Phase kommuniziert habt, als du 1992 in Bosnien warst und du die Bestellliste von dem durchgegeben hast, was gerade nötig war. Dann hat dein Ehemann Klaus-Peter das besorgt. Da ward ihr so beschäftigt, das alles auf den Weg zu bringen, dass ihr euch gar nicht austauschen konntet: 'Wie geht es dir? Schatz, ich vermisse dich'. Das Miteinander-Tun hat eure Beziehung aber eher belebt.
Monika Hauser
Ich muss im Nachhinein noch einmal sehr anerkennen, dass Klaus-Peter, der damals im WDR gearbeitet hat, und Schwierigkeiten bekam, als er einen Aushang gemacht hat. 'Hier gibt es eine ganz junge neue Organisation, Kollegen und Kolleginnen, unterstützt das doch'. Das wurde aber in der Chefetage nicht sehr gern gesehen. Er hat dann im Studio die Berichte hereinbekommen, und als erstes gesehen, dass Zenica, die Stadt, in der ich das Projekt in Bosnien aufgebaut habe, granatiert wurde und er musste die Berichte für die Tagesschau bearbeiten. Das war für ihn sicherlich schwieriger, als für mich vor Ort. Diese Dinge passierten, aber wir haben einfach weiter gearbeitet. Wir haben dem ganzen Wahnsinn die Stirn geboten und die 20 bosnischen Kolleginnen und ich haben gemeinsam in dieser fürchterlichen Zeit ganz große Kraft gehabt. Mit dieser Kraft haben wir ein Projekt nach dem anderen aufgebaut. In den Jahren 1993/94 gab es überhaupt keine Frage, ob man aufhört oder ob man das aushält. Es war selbstverständlich zu bleiben und wir haben das gemeinsam bewältigt, und da war es für Klaus-Peter schwerer, der in Köln im Studio saß und solche Berichte sehen musste.