Frage
Es hat scheinbar in den Jahren seit dem Irakkrieg 2003 doch so etwas wie eine Entwicklung gegeben.
Hans Mörtter
Ja. Ich denke schon, dass es eine Weiterentwicklung gegeben hat. Unsere Seniorinnen sind mit ihren Kochgeschichten an die Öffentlichkeit gegangen und haben dann später – mit Ihnen als Redakteurin - das Buch „Angerichtet – Vom Überleben und Kochen in schlimmer Zeit“ nachgelegt, in dem es eine wesentlich intensivere Auseinandersetzung mit der Kriegs- und Nachkriegszeit gibt und in dem auch männliche Kriegsteilnehmer zu Wort komme. Da ist viel freigesetzt worden. - Die Figuren von Barbara Riege würden jetzt in der Form, wie sie damals installiert wurden, nicht mehr passen. Die waren alle für sich und isoliert von einander. Heute weiß die „vergessene Generation“, dass man sich ihrer gewahr ist, dass es nicht nur um Einzelerlebnisse, sondern auch um ein kollektives Phänomen geht. Das wird mittlerweile allgemein hin wahrgenommen, ist Gegenstand weiterer Forschung und Thema vieler Veröffentlichungen in allen Medien. Damit ist das Thema im allgemeinen, gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen und kein isoliertes Geschehen mehr.
Frage
Die Betroffenen sind also nicht mehr allein damit.
Hans Mörtter
Zumindest diejenigen nicht mehr, die in der Lage und willens sind, sich dem Thema zu stellen. Und dabei ist jede Erfahrung wichtig und Gold wert. Wir üben eine eingehende Kultur des Erzählens und des Zuhörens ein und es findet der Versuch einer Deutung statt. Wo bleibe ich als Hörender in dem Gottesdienst mit meinen Geschichten? Vielleicht müssten wir in Zukunft die Möglichkeit schaffen, dass alle Anwesenden sich einbringen können, dass auch für einen erweiterten Dialog Raum ist. Es soll kein statischer Gottesdienst sein.
Frage
Kann Kirche da mehr tun, als nur reden?
Hans Mörtter
Ja. Kirchliche Organisationen wie „Brot für die Welt“ und „Misereor“ tun ganz konkret etwas, indem sie in Krisengebiete gehen und dort vor Ort Hilfe gegen Hunger und Krankheit und zum Wiederaufbau leisten. Dafür wird in den Gottesdiensten regelmäßig gesammelt. Gerhart Baum, der ehemalige Bundesinnenminister und unser erster Gast beim Talkgottesdienst, hat da noch ganz andere Ideen. Zum Krieg im Kongo und anderswo schlägt er vor, die Diktatoren, die am Krieg und an der Unterdrückung der Bevölkerung verdienen, zu isolieren. Er plädiert für radikale Sanktionen, Einreiseverbote solcher Politiker in möglichst alle anderen Länder und das Einfrieren sämtlicher Auslandskonten der Gewaltherrscher. Wenn es ums Geld geht, da sind sie verwundbar. Dazu muss man aber konsequent und sich einig sein und manchmal auch einen langen Atem haben. Bomben abwerfen, ginge schneller. In Zukunft sind aber ganz andere Konfliktlösungsstrategien weltweit im Miteinander gefragt. Wir brauchen ein Kodex dafür.
Frage
Das sind aber politische und keine kirchlichen Entscheidungen.
Hans Mörtter
Nein, aber Kirche kann das fördern, indem sie auf Politiker einwirkt. Wir erleben doch in Afghanistan und im Irak, dass es nicht funktioniert. Im Libanon droht wieder ein neuer Krieg mit Syrien. Deshalb ist eine der Fragen, der wir im Gottesdienstformat „Vergessene Generation“ nachgehen, die nach dem Grund, warum wir glauben, dass das nur mit Gewalt geht. Weil unsere Erfahrungen das bestätigen. Das zementiert sich. Der Stärkere setzt sich durch. Was sind Faktoren, die Gewalt beschleunigen. Dazu gehören auch wirtschaftliche Interessen. Da geht es darum, sich dessen bewusst zu werden.
Frage
Also geht um mehr, als die Schrecken des Krieges immer nur unreflektiert wieder aufleben zu lassen. Der Blick soll für gewaltfreie Lösungen geöffnet werden, für eine ganze Bandbreite von Menschenrechtsarbeit und friedensstiftenden Maßnahmen.
Hans Mörtter
Genau. Ich habe kürzlich den Roman "Stadt der Diebe" von David Benioff gelesen, der in Leningrad während des Zweiten Weltkrieges spielt. Darin wird der Frage nachgegangen, wie man aus all dem Leid, das auf russischer und deutscher Seite entstanden ist, aus dem riesigen Trauma eine Friedensbotschaft machen könnte. Das hat mich fasziniert. Das geschieht schon in Japan. Die haben aus den beiden Abwürfen von Atombomben von 1949, die Friedensbotschaft von Hiroschima und Nagasaki entstehen lassen. Die reisen aktiv herum und vermitteln das weltweit. Oder hier in Deutschland die Frauenkirche in Dresden. Auch die setzen weltweite leuchtende Signale. Das entspricht doch dem Bedürfnis der meisten Menschen: „Wir wollen keinen Krieg, wir wollen etwas anderes.“
Das Interview führte Helga Fitzner am 20. Juli 2010