Interview mit Pfarrer Hans Mörtter
zum Talkgottesdienst am 17.06.2012

Grundsätzliche Gedanken zur Lage in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten

"DA GEHT ES NICHT UM PARTEINAHME, ES GEHT UM ZUKUNFT"

Vom 11. bis 24. Juni 2012 fand im Allerweltshaus die Foto-Ausstellung
„Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948“  statt. Diese sollte ursprünglich in der Lutherkirche stattfinden und die Lutherkirche war als Ausstellungsort vom Presbyterium der Lutherkirche tatsächlich bereits beschlossen. Es gab im Vorfeld aber Einwände von jüdisch-christlichen Organisationen und schließlich dem Presbyterium der Evangelischen Gesamtgemeinde. Daher disponierten wir um. Die „Nakba“ fand daher im Allerweltshaus in Köln-Ehrenfeld statt.

Am 22. Juni 2012 lud begleitend die jüdisch-israelische Initiative Zochrot  zu dem Gespräch „Ohne Erinnern keine Zukunft“ in die Kartäuserkirche ein.

Für den Talkgottesdienst am 17. Juni 2012 in der Lutherkirche konnten wir Rupert Neudeck, den ehemaligen Vorsitzenden von Cap Anamur, als Gesprächspartner gewinnen. Neudeck war seit 2002 in friedensstiftender Mission mit dem Grünhelme e.V. unterwegs und arbeitete auch im Westjordanland und in Gaza. Er berichtete von seinen Erfahrungen vor Ort. Wir glauben, dass das gute Ergänzungen zur Ausstellung waren.
Hans Mörtter 

Interview Teil 1:  "Ich bleibe der Bruder Israels"

Frage von Helga Fitzner
Was ist denn so verstörend an dem Thema?

Hans Mörtter
Es geht um die Vertreibung der Palästinenser*innen, als 1948 der Staat Israel gegründet wurde. Die Ausstellung zeigt, wie die Palästinenser*innen ihre Heimat verlassen mussten und zu einem Volk von Flüchtlingen wurden. Einige ihrer Dörfer sind dabei vernichtet worden, so dass sie nicht zurückkehren konnten.

Frage
Sie machen sich also der Israelkritik "schuldig"!?

Hans Mörtter
Nein. Dabei geht es uns nicht im geringsten darum, zu behaupten: Guck mal, wie „böse“ die Israelis damals gewesen sind. Aber die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung ist ein historisches Faktum.

Frage
Was ist Ihr Anliegen?

Hans Mörtter
Es geht darum, dass dieser Umstand anerkannt wird, damit irgendwann eine Versöhnung stattfinden kann. Es geht darum, dass diese Art von Geschichte sich nicht wiederholt. Es geht um Zukunft. Man kann im Falle Palästinas sicher um viele Detailfragen streiten, aber dass es eine Vertreibung gegeben hat, ist eine belegbare Tatsache. Das brachte Leid über die Menschen, die seit vielen Generationen dort gelebt hatten. Die mussten ihr Land, ihre Olivenbäume, ihre Familiengräber, alles zurücklassen. Das ist ein Trauma. Das stelle ich erst einmal fest. Dann frage ich, was heißt es denn heute, nach diesen Geschehnissen miteinander zu leben.

Frage
Sie weisen auch immer wieder darauf hin, dass vielen der Juden und Jüdinnen, die damals ins Heilige Land gekommen sind, von den Deutschen unaussprechliche Gräuel angetan worden waren.

Hans Mörtter
Richtig. Beide Völker leiden, jedes auf seine Art, an einer kollektiven Traumatisierung. Die können nur ein gemeinsames Haus bewohnen, wenn sie das Trauma des anderen wenigstens anerkennen. Das ist auch eine große Herausforderung für die palästinensische Seite, die berechtigte Existenzangst des jüdisch-israelischen Volkes ernst zu nehmen.

Frage
Die Menschheit hat so eine Art angeborene Vernichtungsangst, zum Beispiel, vor Naturkatastrophen oder Meteorit-Einschlägen. Für das jüdische Volk ist aber innerhalb der erinnerbaren Geschichte eine Massenvernichtung unvorstellbaren Ausmaßes Realität geworden.

Hans Mörtter
Ja. Deswegen sollten wir Deutschen vielleicht versuchen, behutsam Brücken zu bauen für eine gegenseitige Wahrnehmung. Für mich heißt das auf keinen Fall, indem ich von der palästinensischen Geschichte erzähle, dass ich ein Feind Israels wäre. Ich bleibe der Bruder Israels, durchaus auch der In-Der-Schuld-Stehende.

Frage
Was für Brücken sollen damit gebaut werden?

Hans Mörtter
Ich glaube, dass wir neben der jüdischen auch die Geschichte der Palästinenser*innen kennen müssen, und zwar ohne Verurteilung des israelischen Volkes. Da geht es nicht um Parteinahme, denn die müssen ja miteinander leben. Es gibt keine Alternative dazu...

Frage
... doch, eine Mauer.

Hans Mörtter
Eine Riesenmauer. Die ist der Albtraum, gerade für uns Deutsche. Was habe ich gegen die deutsche Mauer damals für einen Hass entwickelt. Ich als Pfarrer und Pazifist hatte Vorstellungen, dass ich Handgranaten werfe und das Ding in die Luft sprenge. Dieser Hass entsprang aber dem furchtbaren Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung. Die Mauer in Israel steht für Trennung von Wegen, von Menschen, von ganzen Dörfern und Gemeinschaften. Sie geht mitten durch Olivenhaine, die die Identität und die Wurzeln von palästinensischen Bauern sind. Aber wir müssen heraus aus einer Schuldzuweisung und angstbesetzten Diskussion. Ich muss erst einmal wahrnehmen. Mit dem Blick des anderen zu schauen, geht nur, wenn ich dem anderen mal zuhöre.

Frage
Die Beschäftigung mit dem Thema wird von bestimmten Gruppierungen als anti-israelische Haltung gewertet.

Hans Mörtter
Anti-israelisch sind für mich die Faschist*innen. Da müssen wir extrem wachsam sein, weil der Faschismus sich gegen Juden, Muslime und moderne Christen *) gleichermaßen wendet. Wenn ich einen Menschen als Bruder liebe und ich sehe, dass er etwas tut, was schlimme Auswirkungen für ihn hat, oder wenn ich sehe, dass er in eine Sackgasse rennt, dann muss ich ihm das sagen, weil ich ihn liebe.

Frage
Wie stehen Sie zu den jüdischen Israelis?

Hans Mörtter
Ein jüdischer Mensch ist für mich ein Mensch, dem ich gerne zuhöre und der ein willkommenes Gegenüber für mich ist. Ich sehe in ihm nicht zuerst ein Holocaust-Opfer oder den Nachfahren eines solchen. Er hat vielleicht einfach eine Weltsicht, die mich neugierig macht. Ich lerne gerne dazu. Für mich als Pfarrer ist er in erster Linie ein Mensch, der einen Glauben hat, mit dem ich sehr viel gemeinsam habe.

Frage
Jesus war Jude.

Hans Mörtter
Jesus war Jude, fast sein ganzes Umfeld war jüdisch. Die jüdische Thora ist als Altes Testament auch unsere Bibel.  - Das jüdische Volk ist im Laufe der Nachkriegsgeschichte auch zu unserem Partnervolk geworden. Wir sind dem Volk schuldig, ehrlich mit ihm zu sein und nicht den Politikern oder den militärischen Führern, die gerade vorübergehend an der Macht sind, nach dem Mund zu reden. In der israelischen Presse wird ja auch massiv die Siedlungspolitik des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im Westjordanland kritisiert.

Frage
Wenn die israelische Presse diese Kritik äußert, ist das aber etwas anderes, als wenn das aus Deutschland kommt.

Hans Mörtter
Das ist ein Unterschied. Aber ich finde, man muss es ihnen sagen. Die Israelis haben dann immer noch die Möglichkeit zu antworten: Das interessiert uns nicht. Das ist ihr Recht. Aber mein Recht ist es auch zu sagen mit großer Achtung: Leute, das ist fatal, das führt zu immer mehr Hass, zu immer mehr Verzweiflung. So gibt es keine Zukunft. Ich wünsche Euch aber Zukunft. Ich wünsche Euch Schalom und Salaam. Jerusalem ist die heilige Stadt von drei Weltreligionen. Das ist die große Herausforderung. Wenn wir es nicht schaffen, da in ein friedliches Miteinander-Leben zu kommen, wenn wir den Kindern und Jugendlichen nicht beibringen, dass das möglich ist, wenn wir „Alten“ das nicht schaffen, dann können wir diesen Planeten aufgeben. 

*) Trotz der ausschließlich männlichen Form sindim Geiste Frauen immer mit eingeschlossen

Interview Teil 2:   "Wir können nicht stellvertretend abarbeiten"

Frage
Die Fronten haben sich aber so verhärtet, dass oft der Grundsatz gilt: Wer pro-palästinensisch ist, ist automatisch anti-israelisch. Das ginge doch gar nicht anders.

Hans Mörtter
Wieso das denn? Nee. (Lange Pause). Ich kritisiere die Politik der palästinensischen Hamas genauso, wenn sie Menschenleben fordert. Das geht nicht.

Frage
Israelische Siedlungen werden von Palästinensern fast regelmäßig mit Raketen beschossen.

Hans Mörtter
Wo Waffen sind, werden sie meistens auch benutzt. Da ist manchmal schwer zu sagen, wer eigentlich schuld ist. Die Israelis geben der Hamas und der Fatah die Schuld, weil die die Juden ins Meer treiben wollten: Auch das ist historisch belegt. Die Kriege, die da stattgefunden haben, sind aber auch Zeichen einer Epoche und einer Entwicklung. Das berechtigte Anliegen des israelischen Volkes und der israelischen Politik sehe ich ganz klar, da habe ich auch überhaupt kein Recht, ihnen das abzusprechen. Wenn sie Gewalt anwenden müssen, weil es nicht anders geht, bedrückt mich das, aber das Recht dazu kann ich ihnen nicht absprechen. Aber wir müssen einfach weg von der Überzeugung, dass Krieg der einzige Weg ist, einen Konflikt zu lösen. Wir müssen – weltweit - alternative Lösungsmöglichkeiten finden.

Frage
Sie sprechen trotz Mauer und Zweistaatenlösung vom Zusammenleben.

Hans Mörtter
Man redet von der Trennung, von der Zweistaatenlösung für Israel. Aber das ist auch schon wieder Schnee von gestern. Das wäre auch wegen der wirtschaftlichen Verflechtungen sehr schwierig. Die einzige Möglichkeit wird ein Miteinander sein, aber dazu müssen sie ihre Wunden zeigen, sie müssen sich zuhören und sich vergeben können. Sie müssen sich achten lernen, Friedensrituale und Friedenszeremonien entwickeln, Versöhnungsrituale, für das, was ihnen auf beiden Seiten widerfahren ist. Da muss ich dem anderen aber auch zugestehen, dass da etwas passiert ist. Vielleicht hört man dann ein Bedauern, die Entschuldigung, dass man damals nicht anders hätte reagieren können.

Frage
Die Palästinenser baden jetzt auch ein Stück weit das aus, was Deutsche den Juden während des Zweiten Weltkriegs angetan haben.

Hans Mörtter
Nachdem die europäischen Juden wegen der Shoah in den 1940-er Jahren ins Heilige Land strömten, sind viele Palästinenser als Folge der Vertreibung in die ganze Welt ausgewandert oder in Flüchtlingslagern gelandet. Die mussten aus ihren Dörfern und bäuerlichen Verbänden heraus. Es sind aber auch Ingenieure, Architekten, Musiker, Künstler daraus hervorgegangen. Die sind global geworden. Sie sind, wie die Juden, ein Volk, das über die ganze Welt verstreut lebt. Das müsste eigentlich verbinden, die Sehnsucht nach Heimat, zu einem Ort zu gehören. - Es wäre natürlich anmaßend zu sagen, dass wir jetzt diejenigen sind, die ihnen das wieder aufzeigen. Wir können aber nicht immer die eine Gruppe gegen die andere stigmatisieren. Das ist komplexer.

Frage
Palästinenser und Juden haben viel gemeinsam, sie kennen Vertreibung, Wurzellosigkeit.

Hans Mörtter

Angstgefühle, Ohnmachtsgefühle, Verzweiflung.

Frage
Sie haben zum Themengottesdienst jemanden eingeladen, der sich vor Ort auskennt.

Hans Mörtter
Rupert Neudeck ist mit seiner Grünhelmorganisation im Westjordanland und Gaza aktiv und versucht dort, friedensstiftende Arbeit zu machen. Er erlebt dabei das Leid der Bevölkerung wegen des Mauerbaus und der Siedlungspolitik von Netanjahu. Rupert Neudeck engagiert sich da sehr für die palästinensischen Bauern und die Armen. Über die wissen wir so gut wie gar nichts.

Frage
Das Elend hat zu viel Hass auf palästinensischer Seite geführt.

Hans Mörtter
Hass kann ich nur bekämpfen, indem ich anfange, zu erzählen und den Geschichten der Gegenseite zuzuhören.

Frage
Viele sagen, dass es dazu eines Wunders bedarf. Aber ein solches Wunder ist bereits geschehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich Deutsche und Israelis wieder die Hände reichen.

Hans Mörtter
Eigentlich ist es absolut undenkbar, dass da wenigstens teilweise wieder so etwas wie Freundschaft entstehen konnte. Es widerspricht jeder Logik, dass das möglich ist. Die Kriegsgeschichte von Arabern und Juden ist dabei längst nicht so menschenvernichtend in dieser radikalen Ausschließlichkeit und in dem verheerenden Ausmaß wie die Shoah.

Frage
Wenn jetzt in Deutschland eine Ausstellung über die Vertreibung der Palästinenser stattfindet, erkennt man den Juden damit wirklich das ab, was ihnen von uns angetan worden ist, oder sind das zweierlei Schuhe.

Hans Mörtter
Das sind zweierlei Schuhe. Wir können nicht stellvertretend abarbeiten oder aufrechnen. Es gibt eine faktische Bedrohung des israelischen Volkes, die sich auch nicht wegdiskutieren lässt. Aber die Faktoren, die dazu geführt haben, sind sehr vielschichtig und haben natürlich auch mit israelischer Politik zu tun, die kaum Diplomatie zulässt und auf sogenannte Vergeltungsschläge nicht verzichten will. Israel befindet sich seit der Staatsgründung 1948 im Kriegszustand. Was heißt das für die Menschen? Das muss man sich vorstellen, sich seit Generationen jeden Tag im Krieg zu befinden. Das macht doch etwas mit den Menschen, da ist auch im “Alltag“ immer eine unterschwellige Angst da. Wie wirkt sich das nach innen aus, in den Beziehungen, für eine Zukunftsfähigkeit? Da herrschen einfach Todeskreisläufe, die nach meiner Meinung damit zu tun haben, dass die Not des anderen nicht wahrgenommen wird. Die palästinensische Seite sieht nicht die Existenznot des jüdischen Volkes. Die israelische Politik dagegen sieht nicht die Not der Palästinenser, die in ihrem Land leben.

Frage
Neben dem Gespräch mit Rupert Neudeck wird auch die Solotänzerin Morgane de Toeuf auftreten. Was hat es mit ihr auf sich?

Hans Mörtter
Das ist einfach eine junge klassische Tänzerin, die viele gute Ideen hat. Die hat sehr viel Empathie und ist sehr ausdrucksstark. Die wird mit unserem Kantor Thomas Frerichs zusammen ein Stück entwickeln und eine Tanzperformance zur Situation in Palästina aufführen. Sie versucht das künstlerisch sichtbar zu machen. Das finde ich auch wichtig, dass wir nicht nur reden, sondern durch diese künstlerische Freisetzung versuchen,  Brücken zu bauen. Mit Kunst kann man anders in die Wirklichkeit einbrechen.

Fotos: Helga Fitzner
Das Interview führte Helga Fitzner am 9. Mai 2012

 

Hans Mörtter mit Rupert Neudeck beim Talkgottesdienst, Foto: RA Winfried Seibert

Rupert Neudeck beim Talkgottesdienst mit Hans Mörtter, Foto: RA Winfried Seibert