Herr Palmitessa, Sie haben sich nach mehr-jährigem Musikstudium in Italien entschlossen, nach Köln zu gehen. Ihnen hätte eigentlich die ganze Welt offen gestanden. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Ich hatte in einem italienischen Kulturverein eine Musikerin kennen gelernt, die an der Universität Köln dozierte. Sie hat mir von Köln als multikultureller Stadt erzählt. Köln wäre zwar eine Großstadt, hätte aber den Charme eines Dorfes. Weil ich aus einem Dorf kam, dachte ich, dass das besser passen würde als Berlin, Paris oder London. Ich wäre auch gern nach New York gegangen, aber ich hatte etwas Angst gehabt. Ich konnte kein richtiges Englisch oder Französisch, nur das, was ich in der Schule gelernt hatte. Ich hatte vorher auch noch nie im Ausland gelebt. Da habe ich mir überlegt, dass ich erst mal nach Köln gehe und schaue, wie das ist. So bin ich hierher gekommen.
Konnten Sie sich hier musikalisch verwirklichen?
Das war ein weiterer Grund, nach Köln zu kommen, weil hier verschiedene Aufnahmen entstanden sind mit Keith Jarrett, Charles Mingus und anderen Jazz-Musikern. Dann bin ich hierher gekommen. Aber ehrlich gesagt, die erste Zeit hier, war sehr schwer. Ich hätte nicht gedacht, dass die deutsche Kultur so zurückhaltend ist. Ich komme aus Süditalien. Die Süditaliener sind nicht so offen, wie man oft denkt. Um dazu zu gehören, muss man zu einem Kreis gehören, zu einer Art Clique. In Köln dachte ich, dass ich mich nur in eine Kneipe setzen bräuchte, um Leute kennen zu lernen. Das war eine totale Enttäuschung. Ich habe da ein Jahr lang keine Kontakte bekommen.
Das ist aber schon ungewöhnlich, dass sich da so lange nichts getan hat.
Ich muss auch zugeben, dass ich kein deutsches Wort kannte. Das war eine kleine Behinderung. Ich konnte Englisch, aber nicht gut genug, um fließend mit den Leuten reden zu können. Trotzdem war ich enttäuscht.
Das hat sich mittlerweile ja geändert. Wie ist das geschehen?
Ich musste mich erst daran gewöhnen, mit den Leuten Termine auszumachen. Am Anfang wollte ich immer einen Termin von einem Tag auf den anderen. Ich kannte das Konzept mit dem Kalender nicht. Danach bekam ich dann auch Kontakte. Es folgte das erste Konzert, dann ein Konzert im WDR. Der Kreis ist immer größer geworden, und jetzt habe ich mehrere Projekte.
Die größte Medienaufmerksamkeit haben Sie mit einem einzigartigen Projekt erzielt. Im Menschensinfonieorchester musizieren Menschen mit und ohne Wohnsitz zusammen. Wie kam das zustande?
Das Menschensinfonieorchester wurde an der Lutherkirche in der Kölner Südstadt geboren. Zusammen mit Pfarrer Hans Mörtter. Als ich ihm von der Idee erzählte, fand der das sehr interessant, musste aber erst überlegen, wie das finanziert werden kann. Da habe ich ungefähr ein Jahr gewartet, bis Hans Mörtter sagte: Okay fangen wir an!
Wie kam denn die Finanzierung zustande?
Das war in den ersten Monaten ein großes Risiko, ohne große Erwartungen, aber mit viel Hoffnung. Im Vringstreff haben wir dann die erste Pressekonferenz gemacht und die erste Gruppe gezeigt. Das NRW-Sozialministerium hat dann einen Artikel darüber gelesen und fand diese Idee sehr spannend. Sie kamen zu uns und haben einen Monat lang überprüft, ob wir wirklich existieren und proben. Dann haben die uns drei Jahre lang finanziert. Seitdem ist das Projekt etabliert und existiert seit März 2001. Ich hoffe, dass es weiter geht. Das ist abhängig, wie die Stadt und private Sponsoren uns unterstützen. Ich finde das Projekt immer noch interessant, aber die Finanzierung ist problematisch, was auch mit bezahlten Konzertauftritten nicht gelöst werden kann.
Ist es nicht schwierig, Menschen mit so unterschiedlichen Lebensgeschichten unter einen Hut zu bringen?
Das ist manchmal sehr schwierig. Ich hatte auch eine Periode, wo mir das aus psychologischer Sicht sehr schwierig war. Es gab riesige Diskussionen über Sachen, die ich nicht verstehen konnte. Es gab eine Zeit, wo ich viel Energie investiert habe für wenig Resultate. Dieser große Stress kam immer in besonderen Momenten, bei den Aufnahmen zu unseren CDs gab es immer Stress und Spannungen. Das kommt, weil jeder Musiker in solchen Momenten auch ein bisschen Lampenfieber vor den Aufnahmen im Tonstudio hat. Das muss man mit 15, 16 Leuten multiplizieren, und ich stand in der Mitte davon. Da ist es wichtig für mich, ab und zu auch mal andere Sachen zu machen, um wieder frisch in das Projekt zu kommen. Das war auch meine Idee, dass ich als freiberuflicher Musiker engagiert werde und nicht als Sozialpädagoge, sondern als Berufsmusiker, der das Projekt leitet. Das Orchester hat mich beeinflusst, und ich habe meine Erfahrungen aus anderen Bereichen in das Orchester eingebracht.
Was war Ihr schönster Moment mit dem MSO?
Das war, als wir den Kulturförderpreis der Sparkasse Köln/Bonn bekamen. Das hat mich wahnsinnig glücklich macht. Da hat jemand von außen gesagt, dass dieses Projekt toll ist. Durch einen offiziellen Preis. Das ist unabhängig von den anderen Fördermitteln, die wir bekommen haben. Das ist ein schöner Moment, da auf die Bühne zu kommen und zu fühlen, dass die von der Sparkasse die Idee mit dem Menschensinfonieorchester wirklich gemocht haben.
Unterscheiden sich die Musiker des MSO von anderen?
Für mich nicht. Ich arbeite hier als professioneller Musiker und Orchesterleiter, und ich konzentriere mich auf die Musik. Mein Engagement ist ein rein menschliches. Ich bin kein Sozialpädagoge. Dafür habe ich keine Ausbildung. Ich nehme das wie eine Familie oder wie eine Gruppe. Der Grund, warum ich dieses Orchester gegründet habe, ist aber schon das Potential, Menschen, die in einer anderen sozialen Sphäre leben, zu fördern. Jeder Musiker, auch ein Straßenmusiker, hat unterschiedliche Erfahrungen. Und als Orchesterleiter versuche ich, diese neuen Klänge neu zu benutzen und ihnen einen Wert zu geben. Ich hatte das Glück, lange in der Musikschule zu studieren. Die anderen nicht. Aber der Ursprung von der Musik ist nicht das Studium, das ist was anderes. Ich versuche mich darauf zu konzentrieren und die Balance zu finden, und stelle sicher, dass das Publikum am Ende eine professionelle Aufführung zu sehen bekommt.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit der Lutherkirche?
Die Lutherkirche hat für das MSO und auch für mich persönlich eine besondere Rolle gespielt. Hans Mörtter hat mir lange vor der Gründung des MSO die Möglichkeit gegeben, in der Lutherkirche zu proben. Das war nicht selbstverständlich. Diese Offenheit von Hans Mörtter ist für mich das Potential der Lutherkirche. Das Projekt vom MSO geht auch in diese Richtung, in diese Offenheit Leuten gegenüber, die kein Dach haben. Am Anfang hatte ich in Köln keine Bekannten, keine Freunde. Man muss nicht unbedingt obdachlos sein, um ohne Dach zu leben. In unserem Orchester gibt es Leute, die zwar eine Wohnung, aber kein soziales Dach haben. Viele fragen mich, wie viele Obdachlose es in dem Orchester gibt. Ich finde Frage sehr blöd. Das Projekt ist für Obdachlose gedacht, aber nicht nur. Es ist für Leute gedacht, die professionell Musik machen wollen.
Sie wollen den Menschen im Orchester auch ein Stück Heimat geben?
Das gehört auch dazu. Meine Heimat ist sehr weit weg. 1850 Kilometer. Da kann ich auch verstehen, warum Obdachlose Schwierigkeiten haben, zu leben - weil sie keinen Mittelpunkt mehr finden. Es gibt aber auch Leute, die nicht unbedingt zu sozialen Randgruppen zählen, aber trotzdem etwas brauchen, um sich selbst nicht weiter zu verlieren. Die Musik hat die Magie, ohne Wort, ohne nix, innerhalb von wenigen Sekunden, in eine gemeinsame Harmonie und eine gemeinsame Menschlichkeit zu gehen. Man geht in diesen Tanz, man ist eine eigene Zelle und man kommuniziert mit dem Universum. In diesem Moment hat man wirklich Erfolg. Dann ist man wirklich reich.
Das Interview führte Helga Fitzner am 24. April 2007