Hans Mörtter
Also das, was echt ist, muss auch geschehen. So weit wir das Sensorium dafür haben, was wirklich ist, dann passiert das, was gut und wichtig ist. Das erzählt diese Geschichte. – Jetzt würde ich gern auf Bad Reichenhall am 1. November 1999 zu sprechen kommen.
Claudia Amm
Günter Lamprecht und ich wurden 1. November 1999 von einem 16-jährigen Amokschützen über den Haufen geschossen. In diesem Moment, dachte ich: „Ist das jetzt der Tod?“ Dieses Ausgeliefertsein war für mich das Schlimmste. In diesem Augenblick konnte mich nicht an Gott wenden, nicht beten, weil der Gott der katholischen Kirche in meinem Leben nicht mehr existierte. Nach diesem Ereignis bin ich dem Leben gegenüber sehr dankbar geworden, sehr froh, dass ich lebe. Ich bin auf eine bestimmte Art auch bescheidener geworden, zufriedener mit dem, was ich habe. So gesehen, war das eine ganz wichtige Erfahrung. - Heute manchmal, wenn Günter und ich Probleme haben - nicht nur miteinander, sondern grundsätzlich - dann sage ich immer: „Das hat einen Sinn gehabt, dass wir am Leben geblieben sind.“ Für mein Leben hat das ganz bestimmt einen tiefen Sinn gehabt, den ich anfangs nicht erkennen konnte. Ich habe mich später dem Buddhismus zugewandt...
Hans Mörtter
Herr Lamprecht, gab es für Sie eine „Adresse“, an die Sie sich wenden konnten? Als 15-Jähriger in der Kriegszeit sagten Sie ja: „Beten hilft.“ Hat das geholfen in der Situation, konnten Sie das?
Günter Lamprecht
Ich hatte schon Routine aus meiner Erfahrung als 15-Jähriger. Bei der ganzen Schießerei habe ich mich nämlich etwas anders verhalten als Claudia. Da kam meine vormilitärische Ausbildung zum Tragen. Ich habe dann sehr praktisch und richtig gehandelt und, zum Beispiel, nach Deckung gesucht. Trotzdem blieb da eine Hilflosigkeit. Ich konnte nicht hin zu ihr. Es waren nur zwei Meter. Ich sah, wie bei ihr das Blut stoßweise aus dem Bauch herauskam. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, weil ich selber zusammengeschossen war, und dann schreit man natürlich und brüllt. Aber ich habe an die Adresse, an die Sie jetzt denken, nicht gedacht, sondern wirklich nur an praktische Hilfe. Ich hab geschrieen: „Warum hilft uns denn hier keiner? Diese feigen Schweine von der Polizei, die gehen in Deckung und schießen nicht. Schießt doch mal zurück! Ihr sollt den ja nicht erschießen, aber ihr sollt uns doch wenigstens schützen, damit wir hier raus können.“ Das war das verzweifelte Schreien von mir. Ich sehe dann, wie bei Claudia die Augen untergehen, ich sehe das Sterben kommen – bis Rudi Lorenz, ein mutiger Sanitäter, den Mut hatte, sie zu bergen und ins Krankenhaus zu bringen. Ich habe so laut geschrieen, dass der Junge aufgewacht ist. Da hörte auch die Schießerei auf. Denn nach meiner Brüllerei wurde nicht mehr geschossen.
Hans Mörtter
Frau Amm, erinnern Sie sich noch an etwas?
Claudia Amm
Nein, an nicht sehr viel. Das dauerte Tage. Ich wurde nur langsam aus dem künstlichen Koma zurückgeholt. Es ist im Grunde etwas, das mir im Nachhinein, aber viel, viel später auch eine gewisse Kraft gegeben hat, eine Kraft, das überlebt zu haben, natürlich auch mithilfe von Gott, sage ich jetzt mal. Insofern hat eine sinnlose Tat auch einen Sinn gehabt.
Günter Lamprecht
Wenn ich bei uns zu Hause sehe, wie Kinder Erschießen spielen, lege ich mich mit den Eltern an, bin dann der Buhmann, weil ich die Spielzeugsachen einsammle und wegwerfe. Und ausgerechnet mir passiert es dann, dass ich zusammengeschossen werde.
Hans Mörtter
Wir müssen bedauerlicherweise zum Schluss kommen. Das Erleben von Gewalt, Kugeln im Körper, die Kindheit, Bad Reichenhall – es gibt Menschen, die sagen, so etwas wie Afghanistan, das gehört zu unserer modernen Gesellschaft dazu, also eine Bundeswehr, Soldaten im Einsatz, eine Berufsarmee. Was sagen Sie dazu?
Claudia Amm
Ich denke, dass im Grunde jeder Einzelne etwas tun kann, damit Gewalt mehr und mehr verschwindet. Das hört sich vielleicht banal an, aber es fängt in der Familie an bei der Erziehung. Viele denken, dass es in Ordnung ist, wenn ein Junge mit einer Pistole spielt. Die Kinder übernehmen das auch aus dem Fernsehen. Die spielen dann richtig so kleine Erschießungsszenen nach. Da kniet sich einer hin und der andere hält ihm die Pistole an die Schläfe, so wie man das aus Krimis kennt. Da ist doch zu überlegen, ob man nicht anfangen sollte, im kleinen Umfeld, Frieden zu säen, indem man versucht, in den Kindern ein friedlicheres Gedankengut zu wecken. Auch diese Computerspiele sind etwas wirklich Gefährliches. Der Staat versucht immer wieder, einen Riegel vorzuschieben, aber das ist unglaublich, was Kinder an Gewalt konsumieren. Im Grunde muss man fragen: „Wer hat unseren Kindern das Töten beigebracht?“ Auch der Amokschütze von Bad Reichenhall ist Opfer der Computerspiele-Industrie.
Günter Lamprecht
Ja, das ist ein ganz klarer Fall und es ändert sich nichts.
Ich bin seit einigen Jahren der Botschafter vom Friedensdorf in Oberhausen und wir kümmern uns um verletzte Kinder aus Krisengebieten. Gerade jetzt hatten wir wieder eine "Lieferung" von 95 Kindern aus Uganda. Wenn man die Kinder sieht, bei denen teilweise die Ärmchen und Beinchen weg sind, und diese schweren Verletzungen, dann kann man gar nicht anders handeln, wie ich handele. Ich sehe doch, wie gut es den meisten unseren "Jören" hier geht und die Eltern eigentlich versagen, und ich finde, die versagen wirklich.
Wir hatten einen kleinen Jungen aus Uganda am Tisch, der nach einem großen Empfang, wie alle anderen Kinder, ein halbes Hähnchen serviert bekam. Der isst nicht, der isst einfach nicht, der Junge. „Warum isst du denn nicht?“ „Ja, wo die anderen sind, die müssen doch noch kommen.“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein halbes Hähnchen nur für ihn alleine war. Wenn man das alles miterlebt, kann man gar nicht mehr ruhig schlafen.
Hans Mörtter
Krieg ist scheiße! Wer uns erzählt, dass Krieg sein muss und dass das eine Lösung ist, der lügt, der lügt, der lügt.
Günter Lamprecht
Ja. Ja. Ja.
Hans Mörtter
Es gibt so eine schöne jesuanische Geschichte. Die Blinden, die machte er sehend, die Tauben machte er hörend, und die Lahmen machte er gehend. Und taub und blind und lahm sind wir, wenn wir das Warum in dieser Welt nicht hören und danach suchen, wo vielleicht jeder auf die uns eigene Weise unseren Teil dazu beitragen können. - Es gäbe noch so viel zu besprechen. Hier sitzen zwei tolle Menschen. Danke, dass Sie in unsere kleine Kirche nach Köln gekommen sind.
Günter Lamprecht
Um Gottes willen, das ist ein wunderschönes Erlebnis und wir können auch gerne wiederkommen.
Hans Mörtter
Da würde ich mich freuen, vielen Dank!
Epilog
Hans Mörtter
Ich dachte mir, diese kleine Luther-Büste, die passt ganz gut als kleine Gabe. Luther ist durchaus ein wilder Geselle gewesen, darin war er ein Kind seiner Zeit. Aber er hat Maßstäbe im freien Denken gesetzt, gegen die Regeln, gegen moralische Gesetze. Gegen eine angestaubte, erstarrte, tödliche, Angst machende Kirche hat er die Freiheit gesetzt und immer gesagt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Er war ein Steher. Das finde ich immer wieder beeindruckend, dieses: „Ja, lasst uns zusammenstehen in dieser Welt und so füreinander einstehen.“
Dazu möchte ich Ihnen die letzte CD vom Menschensinfonieorchester geben, unserem Projekt von Musikern mit und ohne Obdach. Denn ich weiß, dass Ihnen die Clochards am Herzen liegen, die Obdachlosen, als Brüder in Freiheit, davon singt auch dieses Orchester. Der Alessandro Palmitessa, der heute hier Saxophon gespielt hat, ist der Leiter dieses Orchesters.
Redigiert von Helga Fitzner
überarbeitet von Günter Lamprecht und Claudia Amm