Hans Mörtter
1962 bist du im Alter von neun Jahren nach Deutschland gekommen. Dein Vater war Zahnarzt und wollte hier für zwei Jahre arbeiten, während deine Mutter Istanbul nicht verlassen wollte. Deine Mutter gab nach und ihr seid dann hier geblieben. Was waren deine ersten Eindrücke in Deutschland?
Lale Akgün
Was mich am allermeisten beeindruckt hat und was ich immer noch sehr, sehr schätze, sind die verschiedenen Jahreszeiten. Ich habe die ersten neun Jahre meines Lebens in einem mediterranen Land verbracht, habe also diesen jahreszeitlichen Übergang des Herbstes hier, die Verfärbung der Bäume noch nicht gekannt. In Istanbul ist es entweder heiß oder es regnet. So ein bunter Herbst war für mich das Sinnlichste an Veränderung, was ich erlebt habe und ich genieße das heute noch.
Hans Mörtter
Deine Familie kam aus der Weltstadt Istanbul aufs „platte Land“ nach Moers. War dieser Transfer für dich damals ein Kulturschock?
Lale Akgün
Kulturschock kann man nicht sagen, den erlebt ein Mensch nur, wenn er das Gefühl hat, dass sein Wertesystem nicht mehr stimmig ist. Das war bei mir damals nicht der Fall. Später arbeitete ich jahrelang als Therapeutin in sozialen Brennpunkten hier in Köln. Da habe ich diesen Kulturschock gespürt, weil ich dort Menschen begegnet bin, deren Wertesystem nicht mehr stimmte. Die hatten das Gefühl, im falschen Film zu sein, weil ihr Leben nicht mehr stimmig war und sie das nicht aushielten. Man muss nicht unbedingt auswandern, um einen Kulturschock zu erleben.
Hans Mörtter
Ihr musstet damals erst einmal die deutsche Sprache lernen.
Lale Akgün
Ja, das größte Problem war am Anfang natürlich die Sprache. Das war die ersten Monate relativ anstrengend, solange ich mich in der Schule noch nicht verständigen konnte. Damals war die Sprachschulung für Ausländer*innen auch nicht beabsichtigt. Wir haben uns selbst um Privatunterricht gekümmert.
Hans Mörtter
Du hast die deutsche Sprache dann hervorragend gelernt und dich in der Schule gut durchsetzen können. Du hast dich sogar mit Jungs angelegt.
Lale Akgün
Ich hatte schon immer Temperament und ein gutes Selbstvertrauen. Das ist eine gute Basis, wenn man als Migrantin in ein fremdes Land kommt. Als Neunjährige haben mich gleichaltrige Jungs einmal angemacht und da ich mich verbal noch nicht wehren konnte, habe ich zugeschlagen.
Hans Mörtter
Deswegen haben dann später im Bundestag wahrscheinlich alle Männer vor dir Respekt gehabt?
Lale Akgün
Ich habe im Bundestag niemanden körperlich angegriffen, denn da war ich inzwischen in der Lage, verbal anzugreifen. Das ist der Vorteil, wenn man die Sprache beherrscht. Mit neun Jahren war das anders, heute kann ich Menschen verbal in ihre Schranken weisen. Das ist eindeutig besser.
Hans Mörtter
Deine Familie ist ein typisches Beispiel dafür, dass man in verschiedenen Ländern dieser Erde zu Hause sein und doch eine Familie bleiben kann.
Lale Akgün
In dieser Spannung zwischen dem Globalen und Lokalen wird sich unsere Zukunft insgesamt darstellen. Für mich sind die alltäglichen lokalen Kontakte ganz wichtig, man muss aber auch wissen, dass wir global ganz viele Gemeinsamkeiten haben mit Menschen, die ganz ähnlich fühlen und agieren wie wir. Deswegen finde ich die globale Kommunikation so wichtig. Wir müssen einander besser kennenlernen, nicht pauschal als Teil einer Gruppe, sondern als Individuen. Migration wird das Thema der Zukunft sein, es werden noch viel mehr Menschen von dort weggehen, wo sie leben; solange wir dieses Gefälle von arm und reich haben, werden sich die Menschen aus den armen Ländern immer in die Richtung der reichen Länder bewegen, um für sich und ihre Kinder eine bessere Perspektive zu haben. Also kommt die Frage auf, wie wir Einwanderungspolitik und Entwicklungspolitik miteinander vernetzen. Und wir müssen eine Antwort finden auf die Frage, wie wir eine gerechtere Welt schaffen können.
Hans Mörtter
Du beschreibst in deinem Buch so schön, wie du mit neun Jahren schon beschlossen hattest, dass die deutsche Weihnachtstradition in eure Familienkultur integriert werden muss – weil man sich etwas wünschen kann und nicht einfach nur etwas geschenkt bekommt. Du bist dann noch weiter gegangen und hast auch den Nikolaus, das Christkind, den Osterhasen, St. Martin, eigentlich alles, was es hier an christlich behafteten Festen gibt, „adoptiert“.
Lale Akgün
Wenn man irgendwo lebt, muss man nicht nur hinkommen, sondern ankommen, und ankommen heißt, in Kommunikation treten mit den Menschen. Ohne Kommunikation entstehen Parallelgesellschaften. Also habe ich darüber nachgedacht, was diese christlichen Feiertage bedeuten und ob ich als Muslimin da mitmachen kann. Die Frage stellte sich besonders, als meine Tochter in den Kindergarten kam. Da gibt es viele attraktive Feste: das Verkleiden zu Karneval, das Verstecken und Finden von Ostereiern oder Sankt Martin und Nikolaus, die die Güte in Person waren und sinnlich erlebbar machten, was Teilen bedeutet. Warum soll man ein Kind davon isolieren, warum soll man sich selbst davon isolieren?
Hans Mörtter
Du bist Türkin, Lale, und du bist Deutsche. Du bezeichnest dich selbst als „Kulturtürkin“ und bist der Meinung, dass gelebte Bikulturalität ein doppeltes Potenzial habe.
Lale Akgün
Ich finde es eigentlich sehr, sehr einschränkend, wenn man sich nur über die Staatsangehörigkeit oder die ethnische Zugehörigkeit definiert. Ich bin Türkin, ich bin Deutsche, ich bin Frau, ich bin Ehefrau, ich bin Mutter, ich bin Psychologin, ich bin Politikerin, ich bin Opernliebhaberin, Krimileserin, schlechte Köchin, schlechte Hausfrau. Das alles macht meine Persönlichkeit aus. Bei meiner Arbeit in sozialen Brennpunkten in Köln bin ich jungen Leuten begegnet, die sich äußerlich perfekt angepasst und sogar ihren türkischen Namen geändert haben. Wenn einer Can hieß, dann war der auf einmal Johnny. Andere haben es kultiviert, türkisch auszusehen, haben sich einen Schnurrbart wachsen lassen und Klamotten angezogen, die für die Augen des Betrachters völlig türkisch aussehen. Es ist gut, dass wir diese Bandbreite haben und ich finde es nicht in Ordnung, wenn von außen durch Familie und Gesellschaft Druck ausgeübt wird. Das kann ich nicht akzeptieren, dafür bin ich zu sehr Therapeutin. Wir müssen jede Lebensform akzeptieren, solange diese Lebensform nicht die anderen stört und sich an die Rechtmäßigkeiten des Landes anpasst. Wir sollten aufhören, Menschen immer in Schablonen pressen zu wollen und in Schubladen zu stecken, denn die sind furchtbar eng und werden dem Menschen als Individuum nicht gerecht.
Hans Mörtter
Wie würdest du den Begriff Heimat definieren?
Lale Akgün
Heimat ist da, wo ich gerne lebe, wo ich meine Bezüge habe, wo ich meine Kontakte habe, wo ich das Gefühl habe, akzeptiert und angenommen zu sein. Es gibt so eine wunderbare Definition: Wenn ich morgens mit dem stimmigen Gefühl aufwache, ich liege in der richtigen Stadt im richtigen Bett, und es wartet im großen und ganzen der richtige Tag auf mich, dann ist das Heimat.