Peter Clös
Das ging also alles ein bisschen schneller, als Sie mit der Verarbeitung nachkamen?
Karin Beier
Ja, genau. Das ist richtig. Ich meine, dass Angst auch gesund ist. Aber es ist kein besonders schönes Lebensgefühl gewesen. Ich wurde dann auch völlig vom Theater absorbiert, rund um die Uhr, einfach weil ich keine Gelassenheit hatte. Das hat sich glücklicherweise geändert.
Peter Clös
Selbstzweifel als Teil der Kreativität kann ja auch hilfreich sein.
Karin Beier
Sicher, nur es gibt ein Maß. Große Angst lähmt die Kreativität. Meine eigentliche Aufgabe als Regisseurin ist die Schaffung einer angstfreien Probensituation. Das kennen Sie als Schauspieler bestimmt auch. Ein Schauspieler, der Angst hat, ist blockiert. Ich weiß, dass jede Probensituation mit einem neuen Ensemble angstbesetzt ist. Bei einer Leseprobe spüren Sie das Adrenalin in der Luft. Ich glaube schon, dass es eine wichtige Aufgabe des Regisseurs ist, einer Gruppe das Gefühl zu vermitteln, alles machen zu können und zu dürfen, ohne sofort bewertet zu werden.
Peter Clös
Wo steht für Sie der Schauspieler in Bezug auf die Gesellschaft? Sind wir Theaterleute Außenseiter? Sind wir Betrachter aus einer gesunden Distanz? Schärft diese Distanz, aus der heraus wir die Dinge betrachten, unseren Blick?
Karin Beier
Das ist eine interessante Frage, die ich mir so noch nie gestellt habe. Ich glaube, dass dieser Blick auf Künstler*innen, die ihre Kreativität, ihren Input und ihre Identität über Reibung oder Auflehnung bekommen, etwas veraltet ist. Ich glaube, dass das heute eine andere Generation ist. Die Schauspieler*innen unter Zadek haben das Theater revolutioniert. Ich wurde damals als junge Regisseurin gefragt, von wem ich mich abgrenze, und ob ich mich gegen die Vätergeneration der Regisseure auflehne. Das waren für mich völlig absurde Fragen, weil ich mich nie darüber definiert habe, mich gegen etwas anderes abzugrenzen. Ich würde eher versuchen, auf eine intellektuelle Art und Weise Gesellschaft zu analysieren und mit künstlerischen Mitteln etwas in Frage zu stellen. Wenn da möglicherweise Reibung entsteht, würde ich mich aber trotzdem nicht als Außenseiterin empfinden. Das ist für mich so ein verkitschter Revolutionsbegriff, der mir fremd ist.
Peter Clös
Ich habe mir drei derzeitige Inszenierungen am Schauspiel Köln von Ihnen angesehen: „Die Nibelungen“, „Gott des Gemetzels“ und „Maß für Maß“. Mir fällt an allen Inszenierungen auf, dass die Schauspieler*innen sehr viel Freude haben, dass sie sehr viel Freude machen, dass es halt wirklich Spiel ist, das prall ist vor Leben. Daher die Frage an Sie: Sind Sie sehr spielerisch?
Karin Beier
Ganz so spielerisch geht das nicht. Es gibt eine Sache, die versuche ich spielerisch zu nehmen, das ist der Intendanten-Job. Ich glaube, das ist die einzige Art und Weise, wie man damit umgehen kann. Als Regisseurin ist das etwas anderes, weil das auch ein „seelischer Striptease“ ist, weil man den Sachen auf den Grund gehen wollen muss. Die Schauspieler*innen müssen die Sachen tief empfinden, in welche Richtung auch immer. Das ist sehr deutsch, wenn man denkt, das muss Leid sein. Ich finde schon, dass diese Auseinandersetzung im Probenprozess, Menschen zu begreifen, Figuren zu begreifen, aber auch den Schauspieler, dass das ein sehr intensiver, tiefgehender Prozess ist. Ich würde auch nie sagen, dass das Spaß macht. Das ist viel zu anstrengend. Trotzdem kann ich nicht davon lassen. Das ist eine sehr intensive Form des Lebens. Ich glaube schon, dass Theater sinnlich sein soll, ich persönlich langweile mich unglaublich schnell im Theater. Langeweile im Theater ist ganz schlimm, im Gegensatz zum Film. Im Film halte ich das gut aus. Im Theater schaue ich nach drei Stunden auf die Uhr, und es sind gerade zehn Minuten vergangen. Das ist sehr quälend. Ich finde nicht, dass man auf Teufel komm heraus unterhalten muss, aber es muss ein sinnliches Erlebnis sein. In Deutschland ist ja auch im Feuilleton Lachen verpönt. Da kommt bei mir wieder das Angelsächsische durch, denn das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, warum in Deutschland jede Form von Humor gleich Oberflächlichkeit bedeutet. Es ist mir unbegreiflich, aber es ist wirklich so. Vermutlich hat das, was Sie da beschreiben, mit diesem angelsächsischen Humor zu tun. Kürzlich hat mir jemand gesagt, dass man über das Lachen die Menschen öffnet, und sich damit Zugang zu ihnen verschafft. Das geht nicht über den Intellekt. Das wird aber in Deutschland oft nicht so gesehen.
Peter Clös
Sie wollen ein Theater machen, das etwas mit der Stadt zu tun hat. Sie kennen die Stadt, weil Sie Kölnerin sind. Wie geht man da vor? Hat diese Stadt überhaupt eine einheitliche Identität?
Karin Beier
Das ist eine Frage, die sich nicht beantworten lässt, ob es diese eine Identität überhaupt gibt. Man sagt immer, das „Kölner Publikum“ oder das „Stuttgarter Publikum“, das „Bochumer Publikum“. Ich frage mich immer, wer das ist. Das ist sehr schwer zu definieren. Der Versuch, hier in Köln ein „Stadt-Theater“ zu machen, das auch unverwechselbar für diese Stadt stehen sollte, hat für uns mehrere Aspekte. Das ist ein interkultureller Moment. Ich bringe immer das Beispiel, wenn man in Köln öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Da erlebt man die Stadt in ihrer Straßenrealität, so wie sie ist. Es fällt in einer Straßenbahn auf, dass man da von Anfang bis Ende durchgehen kann und bestimmt 20 Nationalitäten zählen kann. Das war auch eines der ersten Kriterien, als mich der Kulturdezernent Prof. Georg Quander angesprochen hat, hier Intendantin zu werden. Ich habe ungefähr 300 Schauspieler mit Migrationshintergrund vorsprechen lassen, die selbst oder deren Eltern oder Großeltern einmal migriert sind. Das ist ja oft schon die dritte Generation. Ich wollte ein Ensemble, bei dem man sinnlich sieht und spürt, was ich eben hier auch als Straßenrealität wahrnehme. Das ist ganz selten, und im Stadttheater noch überhaupt nicht der Fall. Ich weiß auch, dass Schauspieler*innen mit sichtbar indischer oder türkischer Herkunft große Probleme haben, ein Engagement zu bekommen, weil viele Intendanten sagen, und das ist auch nachvollziehbar: Wenn ich Sie engagiere, dann wird es jedes Mal eine Bedeutung haben. Jedes Mal muss man dramaturgisch ausdrücken, warum Romeo indisch ist? So würde das bei jedem Stück sein. In dem Moment aber, wo viele im Ensemble einen Migrationshintergrund haben, stellt sich die Frage nicht mehr.
Ich habe in der Eröffnungspremiere mit den „Nibelungen“ versucht, diesen angeblich deutschen Mythos mit dieser internationalen Truppe so zu erzählen, dass diese Besetzung eine Selbstverständlichkeit ist. Da gibt es drei Brüder, und „Gunther“ hat deutsche Vorfahren, „Gerenots“ Vater kommt aus Jamaika, was deutlich zu sehen ist, und „Giselher“ kommt aus Ägypten. Die Schauspieler haben unterschiedliche Hautfarben und spielen Brüder. Das wird sofort geschluckt. „Kriemhild“ ist aus Polen, „Siegfried“ aus Kroatien. Bei einigen sieht man es, bei anderen merkt man es nur am Namen. Es war auch ein erklärtes Ziel, da eine Selbstverständlichkeit hereinzubekommen, damit nicht jede Besetzung eine dramaturgische Bedeutung hat, sobald einer eine andere Hautfarbe hat. Das sind alles Schauspieler*innen, die eine deutsche Schauspielschule besucht haben, das ausschlaggebende Kriterium ist die Qualität ihrer Schauspielkunst. Wir haben in der Spielplangestaltung das Thema Migration im weitesten Sinne des Wortes als roten Leitfaden mit einfließen zu lassen, ohne jetzt daraus eine „Problemtheater“ zu machen. Ich rede jetzt nicht von einer Eins-zu-Eins-Übersetzung, die es bei einem Stück wie „Katzelmacher“ von Rainer Werner Fassbinder gibt, sondern das Thema Fremdheit und Nähe sehr weit zu begreifen. Das war die eine Seite.
Auf der anderen Seite haben wir in der ersten Spielzeit auch Projekte gemacht, die ganz konkret etwas mit Institutionen der Stadt zu tun haben, wie z. B. „Fordlandia“ in der Halle Kalk. Da ging es um den Arbeiteraufstand in den Fordwerken 1973, der von der türkischen Belegschaft initiiert worden war. Das war ein Streik, der dann auch in die Republik überschwappte. Das recherchierten wir und daraus wurde ein Theaterabend. Dann haben wir Stücke, die sich ganz konkret mit Kölner Bürgerinnen und Bürgern beschäftigen. Der lettische Regisseur, Alvis Hermanis, wird in dieser Spielzeit ein Stück inszenieren, das sich „Kölner Affäre“ nennt. Dabei ist nicht Politik gemeint. Er hat drei, vier Schauspieler des Ensembles los geschickt. Die wurden vor einem halben Jahr instruiert, sich jeweils einen Kölner Menschen auszugucken, ihn zu interviewen und seine Lebensgeschichte kennen zu lernen. Das wird dann später im Theater dokumentiert. Alvis Hermanis versucht eine sehr spannende Form von Dokumentation und Fiktion. Es ist so gedacht, dass die Schauspieler*innen anfangen, über diese Menschen zu sprechen, um dann im Laufe des Abends immer mehr zu diesem Menschen zu werden, und dann im zweiten Teil des Abends gibt es eine fiktionale Begegnung dieser Menschen, die im realen Leben nie stattgefunden hat, die nichts voneinander wissen. Das bekommt dann auch einen utopischen Aspekt. Das sind dann Portraits von Menschen in dieser Stadt.
Peter Clös
Ist das als Dialog gedacht mit dieser Stadt und ihren Bürgern?
Karin Beier
Wobei ich sagen würde, dass jede Aufführung eine Art Dialog ist. Das ist das, was Theater so besonders macht.