Peter Clös
Bei den Prozessen gegen Sie ging es um die Frage, was Vorrang hat. Da wurde das vermeintlich illegale Einschleichen gegen den Erkenntnisgehalt aufgerechnet. Nach langem Hin und Her und nachdem Sie in mehreren Instanzen auch verloren haben, hat der BGH, der Bundesgerichtshof, abschließend gesagt: "Wenn die Informationen von übergeordnetem Interesse sind, dann ist diese Art der Recherche legitim."
Günter Wallraff
Es war eine Gratwanderung. Wenn es um überragende öffentliche Missstände geht, dann ist das Recht der Öffentlichkeit, das zu erfahren, das höhere Rechtsgut. Das wirtschaftliche Interesse hat dahinter zurück zu stehen. Das war davor anders. So habe ich ein Grundsatzurteil erstritten, gegen den Springer-Konzern. Auch in anderen Fällen. Hier in Köln war es Gerling, der gegen mich prozessierte, nachdem ich als Portier und Bote Einblick in diesen „Tempel“ genommen habe. Der war übrigens nach dem Kriege noch von Hitlers Lieblingsbildhauer, Arno Breker, als nachträgliches Bekenntnis an diese „glorreiche“ Zeit gebaut worden. Der Firmeninhaber war jemand, der dieser Zeit nachtrauerte. Ich habe da nun auch mit anderen Papieren arbeiten müssen, mit anderem Outfit. Da war das Delikt Ausweispapiermissbrauch. Das ist ein Delikt, dass erst im Dritten Reich entstanden ist. Als es vorkam, viel zu selten, dass Deutsche jüdischen Mitbürgern ihre Papiere zur Verfügung stellten, damit sie ihr Leben retteten. Seitdem gibt es das Gesetz Ausweispapiermissbrauch. Das Kölner Gericht hat mich in Erster Instanz schuldig gesprochen. Damit wäre meine Arbeit beendet gewesen. – Ich hatte schon überlegt, mich adoptieren zu lassen, um das legal unter anderem Namen weiter machen zu können. – In Zweiter Instanz hat auch Heinrich Böll als Gutachter einen Anteil gehabt. Er hat als Sachverständiger ausgesagt, dass eine bestimmte Literatur nur durch solche Insider-Berichte möglich ist. Da hat mir in Zweiter Instanz ein Richter, unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit, eine Brücke gebaut. Ich hätte in einem „Tatbestandsirrtum“ gehandelt. Ich hätte, so hieß das juristisch – „in blindem Drange irrend gehandelt.“ Mir sollte das recht sein (Gelächter.) Hauptsache, ich konnte die Arbeit legal weitermachen. Ich bin gerade wieder dabei. Meinen 65. Geburtstag am 1. Oktober werde ich umschiffen, weil ich in einer neuen Rolle unterwegs sein werde.
„Loser-Rollen“
Peter Clös
Wenn es Ihre Art der Recherche nicht gäbe, was würde dann noch an Informationen herauskommen? Es wäre eine ganz langweilige Sache, wenn jeder nur noch das sagen könnte, was er sich ohnehin nur zu sagen traut.
Günter Wallraff
Langweilig nicht unbedingt. Man kann auch von außen sehr viele brisante Sachen in Erfahrung bringen. Aber man kann sie überzeugender an die Öffentlichkeit bringen, wenn man es selber erlebt und belegt hat. Aber es gibt schon Kolleg*innen, die recherchieren so akribisch und nachhaltig, dass sie das auch durch viele, viele Gespräche von außen herausbekommen können. Nur es sind wenige. Diese Art der Recherche ist meine Möglichkeit, Wirklichkeit in Erfahrung zu bringen. Ich habe da keinen Alleinvertretungsanspruch. Es ist interessant, dass sich im Ausland neuerdings viele Leute auf meine Arbeit berufen. In Brasilien gibt es schon die 20. Auflage meiner Bücher. Einige Journalist*innen arbeiten nach genau dieser Methode, natürlich da unter Lebensgefahr. Da sind 20 Journalist*innen, die im letzten Jahr ihr Leben verloren haben. - In China gab es einen Kollegen, der meine Bücher in chinesischer Übersetzung gelesen hatte. Jetzt hat er selbst zwei Bücher veröffentlicht: „Die da oben, die da unten“. Er hat den unermesslichen Reichtum in einer bestimmten Bonzenschicht beschrieben und dann die Verelendung von 150 Millionen Wanderarbeitern, die völlig rechtlos sind, die auf der Straße übernachten, die, wenn Unfälle passieren, keinerlei Chancen mehr haben. Ich habe auch eine Einladung nach Südafrika bekommen, um Workshops mit jüngeren Kolleg*innen zu geben, die sich genau nach dieser Methode richten. Es macht Schule, und auch das erfüllt mich mit Genugtuung.
Peter Clös
Wir sind beide schauspielerisch tätig. Aber da gibt es einen gravierenden Unterschied. Wenn ich also Hamlet spielen würde, wüsste jeder im Publikum, ich bin nicht Hamlet, ich mach das nur glaubhaft. Bei Ihren Rollen muss ja jeder glauben, dass Sie das auch wirklich sind. Verursacht denn die Gefahr, dass Sie jederzeit auffliegen könnten, nicht einen starken psychischen Druck? Haben Sie keine Angst?
Günter Wallraff
Doch. Das ist immer eine Urangst bis in die Träume hinein. Ich fühle immer wieder, das könnte längst durchschaut sein. Manchmal ist es urkomisch, und Sie fühlen sich wie in einem surrealen Film und sagen sich: Das kann nicht möglich sein, so Wahnsinniges geschieht da. Das ist immer die Hauptangst, dass man erkannt wird und dass alles umsonst war. Ich mache vorher immer Tests, bevor ich in die Rolle reingehe, und gehe auch zu meinen Kindern in der Verkleidung. Wenn meine Kinder mich nicht erkennen, dann fühle ich mich einigermaßen sicher.
Als ich im Kölnturm als Call-Agent arbeitete, um dieses Betrugssystem offen zu legen, ging es mir ganz dreckig. Ich musste bei 80 Anrufen pro Tag die Leute übers Ohr hauen und sie zu Abschlüssen überreden. Deshalb wollte ich mit einem liebenswerten Menschen zusammen sein. Zufällig arbeitete meine Tochter ganz in der Nähe in einem Hörbuchverlag. Ich habe sie angerufen und mich mit ihr zum Kaffee verabredet. Sie wusste nichts von meiner Rolle. Ich sitze in einem Außenrestaurant, meine Tochter kommt, sucht und setzt sich vier Tische weiter. Erst als ich auf sie zugehe, erschrickt sie und sagt: "Um Gottes Willen, wie siehst Du denn aus. Du bist nicht mehr mein Vater. Komm, da kommen Kollegen vorbei. Was soll ich denen nur sagen. Ich hab mit dir nichts zu tun". Ich sage: "Komm, ich bin ein weitläufiger Halbbruder, der plötzlich aus dem Ausland aufgetaucht ist". (Gelächter) Da sagt sie: "Nee, du siehst aus wie ein Schauspieler, der immer so Loser-Rollen spielt." (Gelächter). - Die Rolle war so verändernd, dass ich nicht mehr ich selbst war. Genau das muss es sein, sonst kriege ich solche Jobs nicht mehr. Ich habe in der Serie in der „Zeit“ mit dem Titel „In der schönen neuen Arbeitswelt“ mit den Callcentern begonnen, um dann über Menschen zu schreiben, die zwei Jobs brauchen, um überhaupt ihr Existenzminimum zu erreichen. Ich dachte, das mit den Callcentern wäre nur ein bescheidener Auftakt. Was das jetzt schon ausgelöst hat, konnte ich nicht im Entferntesten ahnen. Am Anfang hatte ich über Zeitungen und Internet Insider aufgefordert, sich bei mir zu melden. Erst hat sich keiner gemeldet. Inzwischen sind es weit über 100, die mir von ihren Erfahrungen berichten. Das ganze System ist halb kriminell, und Menschen werden in kurzer Zeit zu Betrügern „ausgebildet“. Die Politik reagiert aber inzwischen. Da habe ich auch mit dafür Sorge getragen, dass es jetzt ein Gesetz geben soll, durch das diese Abschlüsse über Telefon nicht mehr rechtskräftig sind. Sie bedürfen der Schriftform. Da haben sich alle Länderminister und Verbraucherminister dahinter gestellt. Nur leider ist unsere Bundesjustizministerin Zypries noch sehr unter dem Druck der Lobbyisten der Telefongesellschaften, die sich oft dieser Call-Center bedienen. Aber es sieht so aus, dass im Frühjahr dieses Gesetz erfolgt. Das heißt, man kann mit solchen Rollenspielen sogar Veränderungen hervorrufen, und das erfüllt einen auch mit Genugtuung.