Peter Clös
Sie befreien sich – das ist jetzt meine Interpretation – auch durch die künstlerische Tätigkeit. Ihre Gesangskollegin Mouron hat über Sie in ihrem Album, ihrem Buch gesagt: „Wenn ich Georgette mit einem Wort charakterisieren dürfte, dann würde ich sagen, sie ist frei, sie ist frei, alles zu wagen und zu tun, alles zu vergessen, alles neu zu beginnen und alles zu verändern wie eine Göttin, so wie eine Göttin, weil alle, die sie lieben, ihr alles verzeihen.“
Georgette Dee
Ja, das ist in meiner Kunst sicherlich möglich, aber in meinem Alltag, in meinem Leben natürlich nicht so.
Peter Clös
Aber die Kunst ist die Flucht nach vorne.
Georgette Dee
Auf jeden Fall.
Peter Clös
Und die Arbeit mit diesen Kräften...
Georgette Dee
Ja. Und sicherlich ist auch meine Kunst Ausdruck davon, was ich vorher gedacht und gefühlt habe und mit was ich mich beschäftigt habe oder was ich gelesen, gehört und an Leben um mich herum erfahren habe und auch aus mir heraus. Es ist auch eine enorme Anzahl von Fehlern und Dingen, die man falsch gemacht hat. Das kommt natürlich mit in die Kunst herein und gibt dann sicherlich dem Zuhörer manchmal das Gefühl: Aha, man kann doch sehr frei sein. Man kann sich vergeben, man kann wieder von vorne anfangen. Man kann verzagen, verzweifeln, hadern, schreien, weinen, schimpfen, und man kann auch vor Glück irgendwie manisch über den Wolken fliegen. Man darf das alles.
Peter Clös
Das Interessante ist, dass Sie einem in Ihren Auftritten über die Ambivalenz des Lebens nichts verschweigen. Sie spannen den Bogen von der guten Fee, von der „Gutmenschin“, bis zu der Person, die am Himmel ein Flugzeug sieht und voller Zynismus sagt: „Stürz ab, die Drecksbande muss nicht in Urlaub.“ Das sind die Amplituden, da verschweigen Sie nichts. Mir geht es so, dass ich nach Ihrem Programm immer selber mehr Mut habe – und ich weiß ja um die Dinge, ich weiß um die Kräfte, um das Archaische in mir und das Tierische in mir und um die dünne Kulturmembran, die ich über mein Wesen gespannt habe und die sehr brüchig ist. Aber wenn ich eines Ihrer Programme gesehen habe, denke ich mir, ich packe das, ich schaffe das.
Georgette Dee
Das ist gut. Also es ist schon enorm, zu was wir fähig sind. Wir können grundgütige Gute sein und wir können Mörder und Verbrecher sein. Ich versuche irgendwie in meiner Kunst, dem Rechnung zu tragen. Man ist nicht nur gut. Ich versuche auch nicht mit meiner Kunst, irgendwie ein Ziel zu erreichen, sondern eher zu kommunizieren, auch das, was in mir vorgeht, und ein Teil der Menschen zu sein, wie sie auch sind. Man ist nur ein kleiner Teil, Menschen sind so verschieden. Wie ich gestern Abend in meinem Konzert sagte: Früher dachte ich immer, ich möchte zu den Sternen fliegen, bis ich dann das erste Mal im Nachbardorf auf einem Schützenfest war – da dachte ich, ich bin da schon auf einem anderen Planeten. Also so vielfältig ist das alles.
Peter Clös
Sie haben sich noch eine andere Freiheit genommen. Sie sind als kleines Kind in den Garten gegangen, und da machten Sie eigentlich das, was Sie heute immer noch tun in Ihren Abenden: Sie haben Welten beschworen, die es gar nicht gab, mit Drachen geredet, mit Feen, mit Prinzen, mit Königen, Sie haben Kinderwelten heraufbeschworen. Dann haben Sie sich an einen Baum gelehnt, sich umgezogen und das nachgespielt, was Sie sich da vorgestellt haben. Das machen Sie heute immer noch.
Georgette Dee
Irgendwie mache ich das sicherlich immer noch, ja. Ich glaube, die Welt ist auch so. Wenn man die Märchen als Beispiel nimmt, die sind voller Bilder, die wir alle in uns haben auch, symbolmäßig. Menschen mit Hoffnungen und Träumen, Menschen, die eine Veränderung wollen, Menschen wie die Stiefmutter von Schneewittchen, die böse ist, die aber auch nur ihren Wünschen und Nöten nachgeht. So eine verabredete Märchenwelt ist mir lieber, als wenn ich mir so einen hart prosaischen Ostberliner Lyrikschinken hereinziehe, wo ich schon nach zehn Seiten mit den Zähnen irgendwie im Beton stecke, weil ich diese emotionale Quälerei nicht miterleben möchte. Ich bin ungerecht, ich weiß. Für jemand anders mag das genau das Buch sein. Aber in diesen Märchen- und Fantasy-Büchern findet man oft ganz schöne Sachen. Da gibt es Drachen, die irgendwie ganz viel Macht haben und die sich auch ganz selten blicken lassen, und die sind irgendwie Glückssymbole, aber ganz geheimnisvoll. Dann passiert eine Katastrophe und die Drachen müssen auch kommen. Der Held ist dann mit einem Drachen alleine in diesem Versammlungssaal und plötzlich löst sich dieses Hässliche des Drachens vor den Augen des Betrachters auf, und was übrig bleibt, ist ein Kind. Da sagt das Kind: Ja, ich bin die Seele des Drachens. Der Drache, dieses grässliche, Furcht einflößende, machtvolle Wesen, ist im Grunde genommen nur ein Symbol, eine Schutzhülle für dieses Kind, das die Seele des Drachens ist. Solche Bilder finde ich ganz schön. Ich las das Buch gerade, als eine Bekannte von mir an einer ganz schrecklichen Magersucht gestorben ist. Ich musste immer an sie denken, weil sie sah zum Schluss so schrecklich aus, dass man sie wirklich kaum noch angucken konnte, und sie war ein bisschen jünger als ich. Ich dachte immer, ja, das ist die Drachenhülle, und irgendwo ist dieses Kind und bald ist es frei. Es war auch nicht mehr zu retten, denn es hatte sich so entschieden.
„Das Gute und das Böse bildeten immer eine Einheit“
Peter Clös
Hier sind zwei Beispiele für den „ernsten Humor“ von Georgette Dee: "Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an, von vor dem Frühstück bis nach dem Zubettgehen, in der Regel täglich." Oder: "Man hat ein Recht darauf, sich gehen zu lassen, man muss ja nicht mitkommen." Das war mein Problem, wenn ich mich gehen ließ, ich war immer dabei.
Georgette Dee
Ja, das kann sowohl ein Fluch als auch ein Segen sein. - Mir fällt noch ein, als Sie vorhin über die Dinge sprachen, die von innen heraus kommen und dieser Gott immer einer von außen war und angesagt hat, was gut und schlecht ist. Es gibt ein sehr schönes Buch, "Die Universalgeschichte des Bösen" des Franzosen Gerald Messadié, der als Kind im Keller eingesperrt wurde mit der Ansage: „Wenn du dich jetzt nicht benimmst, holt dich der Teufel.“ Da war er sieben oder acht Jahre alt. Er hat also im Keller gesessen und gedacht: „So, wenn jetzt der Teufel kommt, dann habe ich keinen Respekt mehr vor ihm, weil der so viel Zeit hat, sich um so jemand Unwichtiges wie mich zu kümmern. Dann kann der nicht besonders mächtig sein.“ Der Teufel kam auch nicht, aber das war die Initialzündung für dieses Buch. Als Erwachsener ist Messadié lange um die Welt gereist und hat sich alle möglichen Kulturen angesehen, um herauszufinden, was eigentlich das Böse für die Menschen auf der Welt ist. In Ozeanien entdeckte er Völker, denen es extrem wichtig ist, dass sie mit sich im Reinen sind, für die es schrecklich wäre, mit irgendeiner ungeklärten Geschichte zu einem anderen Menschen zu sterben. Das heißt, sie machen alles untereinander aus, weil das gar keine guten „Vibrations“ gibt, wenn sie mit ungeklärten Sachen verscheiden. Denen war klar, dass in ihnen das Gute wie das Böse wohnt. Das Gute und das Böse bildeten immer eine Einheit. Dann fand Messadié heraus, dass es im Kaukasischen ein Volk gab, das einen Satangott hatte. Da war das Böse das erste Mal belegbar ausgelagert. Die Naturvölker wussten immer schon, dass beides in einem ist – der Dolch und die streichelnde Hand. Diese kleine Religion wanderte nach Mesopotamien und die Priester, die da am Werkeln waren, haben sofort begriffen, was das für eine Macht ist, wenn man das Böse auslagert und nur noch die Priester wissen, was jetzt richtig oder was falsch ist. Von da aus hat sich diese Idee und dann auch die Idee von der Hölle verbreitet. Satan war außen und wir stehen wie tumbe, leere Fässer im Kosmos herum und entweder schüttet uns das Böse oder das Gute eine Dröhnung herein.
Ich denke darum geht es. Wenn man das Gute und das Böse in sich trägt, dann wird das Thema mit dem freien Willen interessant. Denn dann kann man sich entscheiden.
Peter Clös
Das ist für mich auch die Einladung, die von Ihnen immer ausgeht, das zu ändern, die Tür aufzumachen, sich dem Wettbewerb der Kräfte, den Ambivalenzen zu stellen. Das spielt auch die Sexualität eine Rolle. Meine rechte Seite, sage ich jetzt mal, ist Geilheit, ist Sex, und die linke Hälfte ist Kreativität, ist geistige Kraft, ist Nobelpreis. Ist es nicht dieselbe Urkraft, die sowohl zum Nobelpreis als auch zum Orgasmus führt?
Georgette Dee
Bestimmt, ich bin mir sicher. Aber auch das ist ganz unterschiedlich. Ich habe Sex gehabt, der ist auch in der Erinnerung noch unglaublich, den kann man überhaupt nicht beschreiben, der war symphonisch. Dann gibt es aber auch Sex, das war wie ein Bratwürstchen im Regen im Stehen zu essen. Qualität und Quantität gibt es da natürlich auch. Aber die Kraft ist die Gleiche. Manchmal denke ich auch, dass Sex ein bisschen überbewertet ist. Ich bin vielleicht ein sexueller Mensch geworden, weil mein Elternhaus sehr prüde war, da war das alles sehr verpönt und man durfte auch nicht darüber sprechen. Ich habe mich dann bei einem Psychologen kundig gemacht und stellte fest: „Du bist nicht verrückt, es gibt ganz Viele, die so drauf sind“. Es ist so, dass sehr sexuelle Menschen oft aus Elternhäusern kommen, wo zu viel Sex oder zu wenig war. Es gibt da aber eine Mitte. Sex ist eine schöne Sache, aber jetzt wird man älter und da ist auch ein blühender Apfelbaum ganz schön.
Peter Clös
Im Triebbereich wird, das, was klein gehalten werden soll, besonders groß.
Georgette Dee
Da kann man sich drehen und wenden, wie man will, die Einflüsse sind einfach da. Also muss man irgendwann, wenn man in die Pubertät kommt, einen Weg finden. Aber mein Traum wäre schon, dass die Menschen in der Familie wesentlich offener wären für alles Mögliche und für alle Möglichkeiten, ganz besonders, was das schwul-lesbische Leben anbelangt, das ist immer noch sehr schwierig. Ich wäre viel gerader in mein Leben hineingewachsen, wenn ich in meiner entsprechenden Pubertätsphase „Support“ gehabt hätte. Als ich in den ersten Jungen verliebt war, hätten die sagen können: „Das ist doch wunderbar.“ Hat man aber nicht, es wurde sofort tabuisiert, verboten. Das Schlimmste war, dass überhaupt nicht darüber gesprochen wurde, es wurde noch nicht mal darüber gestritten.
Ich war aber wild genug zu sagen: So, wenn hier keiner mit mir darüber redet, dann laufe ich jetzt so lange durchs Land, bis jemand ich jemanden finde, der es tut. Und die habe ich auch gefunden - die Jungs.
Peter Clös
In meiner Kindheit war das eine Bedrohung, da musste man die Finger davon lassen. Heute sage ich, wenn Sex und Liebe zusammen kommen, dann ist das wunderbar. Aber es ist natürlich ein Drama, wenn zu viel an Trieb auf zu wenig Gelegenheit trifft, aber nehmen wir jetzt mal an, die Gelegenheiten sind da und sie werden auch genutzt – dann ist doch ein ordentliches Sexerlebnis ohne Liebe immer noch besser als gar keins?
Georgette Dee
Ich glaube, das kommt wirklich auf den Lebensabschnitt an. Für junge Menschen mag das sicherlich noch zutreffen, aber irgendwann, wenn man älter wird, verändern sich die Prioritäten. Heutzutage ist zwar alles sehr tolerant, aber das heißt noch lange nicht, dass viele Dinge akzeptiert sind. Das gilt für heterosexuelle junge Paare genauso. Ich weiß noch, dass meine Schwester mal sehr die Nase gerümpft hat, als mein Neffe seine erste Freundin mit nach Hause brachte und dort auch die Nacht mit ihm verbringen wollte. Sie hüstelte sich einen ab, und ich musste so lachen und dachte: "Ja, ja, genau wie früher, wir machen es auch nicht besser.“
Peter Clös
Wir sind beide zu einer Zeit groß geworden, da waren laut § 175 homosexuelle Aktivitäten noch ein Straftatbestand.
Georgette Dee
Ja, aber die wichtige Sache an der Sexualität ist ihr Zusammenhang mit einem größeren zwischenmenschlichen Beziehungsrahmen. Es wäre natürlich schön, wenn das noch viel selbstverständlicher wäre. Denn das ist das Gleiche, was wir vorhin hatten: Man will erkannt werden, man will akzeptiert werden und nicht nur von dem Menschen, den man liebt oder mit dem man eine Liebesbeziehung hat, sondern auch von denen drum herum. Das findet sich in den alten Ritualen wie Hochzeit usw. Es ist schon viel besser geworden, aber es ist halt doch zu einem großen Teil immer noch ein Traum.
Peter Clös
Sie haben eine sehr schöne Definition von Glück formuliert: "Werfe ich meine Freude an den Himmel, und wo sie hinabfällt, will ich hingehen. Senke ich meine Lust ins Wasser, und wo sie aufsteigt, kann ich bleiben. Gebe ich mein Glück aus meinen Händen, und wer es auffängt, ist mein Zuhaus."
Georgette Dee
Guck mal an, da war ich noch gerade mal über 20, als ich das geschrieben habe.
Peter Clös
Frau Georgette, weiterhin alles Gute für Sie, dass wir, ich eingeschlossen, noch viele Abende mit Ihnen verbringen dürfen und dass das mit dem Tod bei Ihnen noch lange nicht klappt.
Redigiert von Helga Fitzner
P. S.: Georgette Dee hat während des Gottesdienstes NICHT geraucht.