12. Kölner Talkgottesdienst  31.01.2010
zu Gast: Frank Lehmann

Wirtschaftsjournalist, Börsenexperte

„SALUS  PUBLICA  SUPREMA  LEX“ *
DAS ÖFFENTLICHE WOHL IST DAS HÖCHSTE GESETZ !(?)

“Finanzkrise“ wurde zum Wort des Jahres 2008 gekürt. Der „Kasino-kapitalismus“ hat Börsenspekulationen zu einem riskanteren Roulette-Spiel werden lassen als jemals zuvor. Schön, dass Frank Lehmann, der ehemalige ARD-Börsenexperte, Pfarrer Hans Mörtters Einladung zum 12. Kölner Talk-Gottesdienst angenommen hat. Er ist seit 2006 pensioniert, aber nach wie vor aktiv als Beirat der Stiftung Kinderzukunft, in der Multiple Sklerose Gesellschaft und als Kuratoriumsmitglied der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.

Von 1989 an moderierte Frank Lehmann die Börsenberichterstattung in der ARD, zum Schluss als „Börse im Ersten“ immer kurz vor der „Tagesschau“. Dort errang er sehr schnell Aufmerksamkeit und Beliebtheit, weil er – oft in hessischer Mundart – das Börsengeschehen verständlich und auf unterhaltsame Weise präsentierte, sodass es auch die Kleinanleger*innen nachvollziehen konnten. Den Boden der neutralen Berichterstattung hatte er damit verlassen, gab neben den kühlen Zahlen und Fakten auch Stimmungsbarometer ab, schilderte die Befindlichkeiten der Börse und der Anleger*innen, regte sich über die Unsitte auf, dass Arbeitnehmer*innen als Ballast behandelt werden, den es abzuwerfen gilt.

Frank Lehmann mischt sich ein. Der gebürtige Berliner (Jahrgang 1942) kam als 12-Jähriger nach Hessen. Nach einer Lehre zum Industriekaufmann, absolviert er das Abitur und studiert Wirtschaftswissenschaft. Sein Volontariat macht er bei einer Nachrichtenagentur für Wirtschaft und Finanzen. Beim Hessischen Rundfunk hat er mit einer Sprachausbildung begonnen und macht dort Karriere, zum Schluss ist er Leiter der ARD-Börsenredaktion.

Er ist bekennender Karnevalist und Protestant. Frank Lehmann glaubt, dass in diesen unsicheren Zeiten, die Kirche Stabilität und Halt vermitteln, ja sogar zur Orientierungsinstanz werden könne. Dazu müsse sie ihre Ausgaben kürzen, mit „Erzkonkurrenten nachhaltig zusammenwachsen“ und dürfe sich nicht vor Werbung scheuen. Sie müsse ihre Angebote und Stärken deutlich benennen und nachhaltig bewerben. Die Kirchensteuerzahler*innen wollten wissen, was mit ihrem Geld geschehe, weshalb Kirche „Flagge zeigen“ und ihr „Profil glasklar erkennbar“ machen müsse. (Quelle: chrismon plus Januar 2007).

Text: Helga Fitzner
Fotos: Lothar Wages

MODERATION: Pfarrer Burkhard Müller

Lehmann-Sprüche:
„Geld ist an sich weder böse noch gut.
Es liegt immer nur an dem, der’s brauchen tut.“

„Wenn der Deutsche nichts mehr zu jammern hat, dann beginnt das große Wehklagen“. 

Talk Teil 1:  Markt und Wettbewerb

„Markt und Wettbewerb sind die effizienteste Nächstenliebe, die es überhaupt gibt“

Burkhard Müller
Ich möchte ganz herzlich unseren heutigen Talkgast Frank Lehmann begrüßen. Herr Lehmann, Sie haben doch die hervorragende Eigenschaft, immer mit einem Spruch aufwarten zu können. Haben Sie da etwas für uns zur Eröffnung?

Frank Lehmann
Ja, der Spruch ist von dem alten Börsenfuchs Andre Kostolany, den ich immer bewunderte und der Börsen-Weisheiten am Fließband lieferte. Einer seiner bekanntesten Sprüche war: „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie Sie schnell reich werden, ich kann Ihnen aber sagen, wie Sie schnell arm werden - indem Sie versuchen, schnell reich zu werden.“ Das ist eine ganz wichtige Botschaft für Geldanleger.

Burkhard Müller
Ich merke, bei Ihnen kann man ganz entscheidende Tipps bekommen. Ich möchte aber zunächst auf Ihren Ruhestand eingehen. Das ist doch die Zeit zu überlegen, ob man nicht eine Autobiografie schreiben sollte.

Frank Lehmann
Nein, das mache ich nicht. Aber meine Frau und ich haben beschlossen, ein Kinderbuch zu schreiben. Darin geht es um wirtschaftliche Fragen, heruntergebrochen für die kleinen Leute.  Die kleinen Purzel werden in der Schule überhaupt nicht auf Wirtschaft vorbereitet. Ich plädiere seit Jahren dafür, dass man das Fach Ökonomie in die Schule einführt. Wir haben das in Hessen auch schon mal probiert. Ein nicht ganz unbekannter Ministerpräsident hat gesagt: „Das machen wir.“ Aber er hatte die Verwaltung und die Kulturhoheit vergessen. Dann ist es versickert, weil die Lehrer das nicht wollten. Auf Nachfrage erklärte mir eine 45-jährige Lehrerin: “Herr Lehmann, ich kann das nicht! In meiner Ausbildung hat Wirtschaft bei Karl Marx aufgehört!“ - Das spricht doch Bände.

Burkhard Müller
Ein Kinderbuch zu wirtschaftlichen Fragen. Das ist interessant. Sie haben eben das Evangelium Matthäus 20,1 – 16 gehört: „Die Letzten werden die Ersten sein“. Können Sie sich vorstellen, dass man eine solche Geschichte den Kindern erzählt – alle werden gleich bezahlt?

Frank Lehmann
Ja, natürlich. Geld hat ja nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Es hat eine Lenkungsfunktion. Man kann Geld natürlich als gerechtes Mittel einsetzen. Wir kommen wahrscheinlich noch auf den Sinn und Unsinn der Marktwirtschaft oder des Kapitalismus’ zu sprechen. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger des Marktes und des Wettbewerbs, denn wenn Sie mal die Entwicklung des Kapitalismus’ seit dem 19. Jahrhundert verfolgen: Wir hatten noch nie so viel Wohlstand wie jetzt. Also kann man es auf die kurze Formel bringen: Markt und Wettbewerb sind die effizienteste Nächstenliebe, die es überhaupt gibt.

Burkhard Müller
Sie haben immer wieder einen menschlichen Umgang miteinander im Finanzwesen angemahnt. Ich möchte jetzt auf Ihre Anfänge eingehen. Wie sind Sie denn das geworden, was Sie geworden sind?

Frank Lehmann
Ach Gott, ich habe die Schule abgebrochen in der Obersekunda, weil ich zwei Mal sitzen geblieben war.

Burkhard Müller
Sympathisch!

Frank Lehmann
Ja, das kommt darauf an. Ich fühlte mich von den Lehrer*innen verlassen. Ich habe viel Posaune und Kontrabass gespielt, auch ein bisschen Theater. Die Lehrer haben mir alle auf die Schulter geklopft, auch der Mathelehrer und die Lateinlehrerin, und haben immer gesagt: „Super, super!“ Dann habe ich gedacht: Na, die Fünfen in Latein und Mathe bügelst du mit den guten Noten aus, die du in den musischen Fächern hast. Dann haben die aber gesagt: „Schnaps ist Schnaps und Bier ist Bier. Das geht nicht. Wir können nicht deine Neigungen und was du alles für die Schule machst auf die Fächer übertragen.“ Also, ich bin sitzen geblieben und habe mich so geärgert,  dass ich abgehauen bin. Da gab es aber jemanden, der sagte: „Hör mal, das geht nicht, dass du jetzt hier rumeierst . Du musst eine Lehre machen." Daraufhin habe ich eine Kaufmannslehre gemacht. Deswegen weiß ich, was ein ehrbarer Kaufmann ist. Der Banker ist was ganz anderes als ein ehrbarer Kaufmann.

Burkhard Müller
Der Banker ist nicht ehrbar!?

Frank Lehmann
Nein, der Bankkaufmann ist ein ehrbarer Kaufmann, aber der Banker der heutigen Art ist völlig anders. - Jetzt hatte ich also eine Industriekaufmannslehre bei einer Zeitung gemacht. Danach holte ich auf dem beschwerlichen Zweiten Bildungsweg das Abitur nach und war mitten im Studium der Betriebswirtschaft. Da rief mich die Sportredaktion der Zeitung, wo ich Lehrbub gewesen war, auf einmal an, weil die sich daran erinnerten, dass ich ein leidenschaftlicher Ruderer war: „Pass uff, Lehmann, gestern Nacht ist der ‚Ruderpapst’ gestorben. Wir müssen jetzt dringend die Deutschen Rudermeisterschaften besetzen, die sind in Duisburg.“ Ich erwiderte: „Ich kann nicht schreiben. Ich kenne jeden Ruderer auswendig und ich weiß, wer vorne liegt und kann das auch beschreiben, aber ich kann nicht schreiben.“ Die blieben aber hart: “Ach, das macht nichts. Du rufst von Duisburg aus an und erzählst einfach am Telefon, was dir so einfällt. Die Namen müssen nur richtig sein, also, die Namen, die du uns diktierst, müssen richtig sein. Das ist das Wichtigste im Journalismus“. Das habe ich auch gemacht, schwitzend am Telefon 20 Minuten irgendwas heruntergebetet. Als ich am nächsten Tag die Zeitung aufschlage, ist da ein Dreispalter mit Bild von den Rudermeisterschaften und da stand: von unserem nach Duisburg entsandten Fachmitarbeiter Frank Lehmann. Ich lese diesen Artikel und denke, mich trifft der Schlag, so was Tolles. Mir war klar: Jetzt wirst du Journalist. Dann bin ich nach dem Studium der Betriebswirtschaft Journalist geworden.

Burkhard Müller
Das war aber noch nicht beim Fernsehen.

Frank Lehmann
Nein, ich wurde in einer Wirtschaftsnachrichtenagentur  zum Wirtschaftsjournalisten ausgebildet, musste also Wirtschaftsnachrichten formulieren. Dann kam irgendwann  das Fernsehen und fragte: „Sagen Sie mal, Sie schreiben so nett, können Sie auch was vor der Kamera machen?“ Da durfte ich für die Tagesschau arbeiten, das ist die Königsdisziplin, wenn Sie einen Beitrag für die Tagesschau machen. Ich hatte aber null Ahnung vom Fernsehen. Die sagten aber nur: „Wir geben dir einen Kameramann mit, du gehst in die Bundesbank. Aber: Tagesschau darf nur 1:30 Minuten sein, also: 'Sei immer fleißig, aber bitte nur in 1:30!'" Sie haben selber bei der ARD gearbeitet und wissen, wie knapp bemessen Sendezeit ist.

Talk Teil 2:  Moral und Amoral der handelden Figuren an der Börse

„Die Börse selbst ist nicht amoralisch oder unmoralisch, sondern die handelnden Figuren“

Burkhard Müller
Sie sind bei der Börse gelandet und haben vom Parkett aus die Sendung gemacht. Damals, als Sie anfingen, wurde auf dem Börsenparkett noch ziemlich geschrieen.

Frank Lehmann
Da wurde bei der Abwicklung der Geschäfte noch heftig geschrieen. Das war 1987 nach dem ersten großen Crash, als sich die ARD fragte, warum sie nicht an der Börse vertreten ist. Da sich die Deutsche Börse in Frankfurt am Main befindet, fiel das in den Zuständigkeitsbereich des Hessischen Rundfunks, für den ich arbeitete. Da bekam ich Auftrag, gemeinsam mit dem ZDF eine Börsenredaktion aufzubauen. Seit 1989 sendeten wir regelmäßig von der Börse. Wenn Du als Nicht-Beteiligter heruntergegangen bist, wurdest du angebrüllt: „Wenn ich jetzt falle – ich habe 15 Aufträge in der Hand, das ist eine Million wert –, dann verklage ich Ihren Sender.“ Deswegen haben wir von oben gesendet.

Burkhard Müller
Den 11. September 2001, als der Angriff auf das World Trade Center stattfand, haben Sie an der Börse erlebt. Wie war das?

Frank Lehmann
Zuerst dachte ich, ich wäre in einem Film von Steven Spielberg gelandet. Die Bildschirme der Händler*innen sind immer gespalten, da sind verschiedene Sachen drauf. In einem davon sah ich den brennenden Turm. Die waren zwar mucksmäuschenstill, haben allerdings weitergearbeitet. Das ist ja das Fatale, sie haben weiter an der Börse gehandelt. Da ich nicht wusste, was geschehen war, fragte ich: „Das ist New York. Was für ein Film ist denn das?“ Da sagten sie: „Das ist real, das brennt und wahrscheinlich stürzt es ein, keine Ahnung.“ (Frank Lehmann macht Tippgeräusche nach).  Die haben einfach weitergemacht. Ich sage: „Seid ihr wahnsinnig,  das müssen wir doch abbrechen, die Börse.“ „Nein, nein, wird nicht abgebrochen.“ (Frank Lehmann macht Tippgeräusche nach). So ging das.

Burkhard Müller
Gingen dann Kurse gleich herunter?

Frank Lehmann
Klar, die gingen sofort herunter. Man dachte ja, der halbe Weltkrieg bräche aus. Aber die Typen, die da sitzen, sind alles junge Leute. (Herr Lehmann macht Tippgeräusche nach). Regungslos. Erst am nächsten Tag hat die New Yorker Börse zugemacht, weil die ganze elektrische Infrastruktur kaputt war. Die deutsche Börse hat weitergemacht und am nächsten Tag kamen die ersten Emotionen hoch. Da gab es junge Händlerinnen, die zu uns hoch kamen und meinten: „Das muss man doch abbrechen!“ Ich habe erwidert:  „Dann geht doch zur Leitung der Deutschen Börse und sagt: ‚Wir müssen abbrechen, das ist doch menschenverachtend, was wir hier machen. Wir verdienen Geld und da sterben Menschen.’“ Ich hatte das schon gemacht, da hieß es: „Wir machen weiter!“ Was sollte ich als Journalist da machen?

Burkhard Müller
Das wirkt so, als ob so ein gewisser Bereich von Menschlichkeit aus der Börse weg ist, man muss funktionieren. Man ist jung, da hat man noch die Nervenkraft.

Frank Lehmann
Wenn man sagt, die Börse ist nicht moralisch, dann verwahre ich mich dagegen. Die Börse selbst ist nicht amoralisch oder unmoralisch, sondern die handelnden Figuren. An der Börse selbst arbeiten nur Typen, die ausführen, was sie ins Ohr gebrüllt oder über Mikrofon gesagt bekommen. - Das Entscheidende ist: in diesem Augenblick, wo in New York die Katastrophe geschehen ist, welche Leute kaufen da Aktien?

Burkhard Müller
Das war aber nicht immer so schlimm.

Frank Lehmann
Früher hat die Landesregierung Hessens Beamte auf Lebenszeit als Makler bestellt. Auf Dauer ging das aber nicht, weil sich die Märkte immer schneller bewegt haben. Heute arbeiten da Firmen, die sich immer wieder einbringen und bewerben müssen. Die müssen nur noch stur Angebot und Nachfrage zusammenbringen und in Sekunden reagieren. Die Deutsche Börse AG garantiert einem Anleger in London, einen Auftrag in einer Zehntausendstel-Sekunde auszuführen. Das ist nicht einmal ein Wimpernschlag, das ist so schnell, dass menschliche Regungen in diesem Augenblick überhaupt keinen Platz haben. Die Börsenmakler*innen schauen auf ihre Boni und funktionieren. Das sind Roboter.

Burkhard Müller
Um so erstaunlicher, dass Sie immer einen Witz parat haben. Haben Sie einen für uns?

Frank Lehmann
Warum gibt es an der Börse keine Toiletten? - Weil jeder jeden bescheißt.

Burkhard Müller
Sie haben auch eine pädagogische Ader. Erklären Sie uns doch einmal, was Geld eigentlich ist.

Frank Lehmann
Geld ist, rein materiell gesehen, ein Tauschmittel, mehr ist es nicht. Geld ist natürlich auch ein Stück Freiheit und jeder strebt danach. Allerdings macht Geld allein nicht glücklich. Aber man kann mit Geld in schöner Bequemlichkeit unglücklich sein. Geld wurde erfunden, weil man die Tauschgüter nicht mehr hatte. Eine Kuh gegen einen Esel einzutauschen, ist mühsam. Also erfanden wir etwas, was dazwischen liegt, ein Medium. Das ist heute das Geld. Faszinierend ist, dass viele Regionen wieder zum Tauschhandel übergehen. In der Schweiz gibt es diverse Kantone, die haben auch eine eigene Währung, die nur für diesen kleinen Bereich zuständig ist.

Burkhard Müller
Im Brandenburgischen gibt es in einem Ort den Joachimstaler, und in Bethel haben sie auch eine eigene Währung, damit das Geld im eigenen Bereich bleibt. Das können sie da ausgeben und werden nicht abgezockt.

Frank Lehmann
Wir haben bei dem Geld übertrieben, genauso wie bei vielen anderen Dingen. Wenn man es bis zum Exzess übertreibt, dann bekommt das Geld eben diesen schalen Beigeschmack wie jetzt durch diese Krise.

Burkhard Müller
Es gab mal eine Zeit, da konnte man Geld gegen Gold eintauschen. Das war das Bretton-Woods-System**, da war das amerikanische Gold …

Frank Lehmann
Sie kennen sich aus.

Burkhard Müller
... das Gold gelagert, und die haben garantiert: Für diesen Dollarschein bekommst du einen Dollar Gold. Heute ist es so, dass man Geld ohne die entsprechende Goldreserve vermehren kann. Wie geht das, können Sie das erklären?

Frank Lehmann
Normalerweise ist es so, dass hinter dem Geld Werte einer Volkswirtschaft oder in unserem Fall die Finanzkraft der Europäischen Union steht. Im Umfang dieser vorhandenen Werte kann mit einer gewissen Regelmäßigkeit Geld gedruckt werden. Nur hat sich das Geld verselbstständigt. Wir merken das momentan in den USA. Die meinten, sie müssten neue Dinge erfinden. Und man kann mit Fug und Recht fragen: Warum haben die neue Dinge erfunden? Weil wir seit rund 20 Jahren eine Einkommensverteilung von unten nach oben gehabt haben. Ronald Reagan, der Schauspieler in Amerika, hat die neue Art der Wirtschaftspolitik eingeführt, weil er meinte, er muss den Wettbewerb und die Wirtschaft stärken. Seitdem haben wir eine Umverteilung von unten nach oben. Die unten haben kaum noch etwas und die oben sind  zu den Banken gegangen und haben gesagt: „Pass auf, ich habe schon drei Yachten in der Karibik, ich habe aber wahnsinnig viel Geld und ich kriege jeden Tag mehr. Ich möchte, dass du mir ein besseres Produkt und einen höheren Zinssatz anbietest als dem kleinen Angestellten von mir. Der bekommt doch nur 3 Prozent. Ich will mehr! Ich bin ja auch mehr als der.“ Darüber kann man sich trefflich streiten. Aber die Banken haben das gemacht: Deswegen hat man neue Sachen erfunden, die jetzt darniederliegen. Deswegen haben wir den Kollaps.

Burkhard Müller
Ist es so, dass die frühere Bundesbank und jetzt die Europäische Bank Kredite geben kann, die durch nichts abgesichert sind.

Frank Lehmann
Nein.

Burkhard Müller
Wie können die denn dann Milliarden an Krediten an die Banken weitergeben?

Frank Lehmann
Es steht schon die volkswirtschaftliche Leistung der EU dahinter. Darauf achten die Herrschaften. Wir haben momentan allerdings durchaus die Mentalität: Je mehr Geld wir produzieren, umso mehr ist eben im Land, umso mehr hoffen wir, dass investiert und konsumiert wird. Aber da ist Vorsicht angesagt. Wir hatten in den 20-er-Jahren eine Hyper-Inflation, deren Folge eine massive Arbeitslosigkeit war. Diese wiederum hat die Entstehung des Dritten Reiches begünstigt. Das wissen wir alle. Diese Erfahrung will man eben nicht mehr machen. Insofern kann man Geld nur bis zu einem bestimmten Grad vermehren. Das funktioniert eigentlich. Was den Goldstandard angeht, da gibt es aber eine neue Entwicklung. Die Inder und die Chinesen sind im Begriff, die neuen Supermächte zu werden, und kaufen in hohem Umfang von Staats wegen Gold an. Deswegen ist der Goldpreis auch so massiv gestiegen. Dahinter steht eventuell der Plan, eine goldgedeckte, neue Weltwährung einzuführen. Den Chinesen wurmt es enorm, dass er immer von diesem „blöden“ Dollar abhängig ist. Dabei ist China die reichste Nation der Welt, wenn es um die höchsten Devisenreserven geht. Wenn die Chinesen also eine neue Weltwährung einführten, dann hieße es nicht mehr Dollar,  sondern...

Burkhard Müller
Chin-sin-futsch, Chin-sin-futsch?

Frank Lehmann
Chin-sin-futsch, ja.

Talk Teil 3: „Profit without production, Lehmann, das ist das Ziel!“ (sic)

Burkhard Müller
Das hat also die Entstehung der heutigen Wirtschaftskrise begünstigt. Gab es da noch weitere Faktoren?

Frank Lehmann
Also, da waren zum einen neue Produkte erfunden worden, die dann völlig in sich zusammengebrochen sind. Hinzu kommt, dass es in den USA eine wahnsinnig große Zahl von Unterschichten gibt, nehmen wir, John und Mary, die nichts auf der Naht haben, und mit sechs Jobs, einschließlich McDonalds, gerade so hinkommen. In Amerika ist das völlig anders als bei uns, da brauchst du eine Immobilie, sonst wirst du schief angesehen. Sehr viele sind deshalb über lange Zeiträume bis zur Halskrause verschuldet. In Amerika stellen die Hypothekenkredite den höchsten Anteil an der privaten Verschuldung dar. John und Mary, die bislang gerade so mit der Rückzahlung hinkamen, wurden aber dann von Drückerkolonnen überwältigt: „Der Zins ist runter und die Regierung gibt dir noch was drauf.“ Dann haben sie eben eine größere Immobilie gekauft. Irgendwann mussten sie aber zurückzahlen. Als die Zinsen wieder stiegen, konnten sie das nicht mehr. Da brach auch dieses Kartenhaus zusammen. Das führte zu einer weiteren Einkommensverteilung von unten nach oben. Da muss man die Politik voll mit ins Boot nehmen, gerade die amerikanische Politik.

Und noch ein dritter Punkt ist für mich ganz wichtig. Der Historienschreiber Tacitus hat zur Zeit des Römischen Reiches, dessen Ausdehnung auch so eine Art Globalisierung war, schon heftigst beklagt, dass das Verantwortungsgefühl der Einzelnen, die vielleicht irgendwo in Germanien waren, für Rom nicht mehr vorhanden war. Genau das erleben wir mit der Globalisierung jetzt. Da meinen viele: „Ich habe doch keine Verantwortung mehr daheim, ich bin in der Welt zu Hause. Was sagt mir Deutschland? Gar nichts.“ Verantwortungsgefühl ist nicht mehr vorhanden. Ethische und moralische Aspekte zählen kaum noch. Na ja, und wie werden die Banker*innen heute ausgebildet? Sie werden nur nach Zahlen ausgebildet, rein monetär, aber nicht mit Verantwortungsbewusstsein und Ethik. Das ist ganz weit weg vom ehrbaren Kaufmann.

Burkhard Müller
Ich habe gelesen, dass nur 2 Prozent aller Finanztransaktionen noch mit der Realwirtschaft zu tun hätten. Das ist doch wieder die Kasinowirtschaft. Ist das richtig?

Frank Lehmann
Ja, die kollektive Demut bei den Banken ist passé, Boni werden wieder ohne Ende gezahlt. Die Europäische und die Amerikanische Notenbank haben zur Unterstützung, damit sie und wir kaufen, die Zinsen auf fast null Prozent heruntergesetzt. Die Banken nehmen sich jetzt kostengünstige Kredite und investieren sie da, wo eine hohe Rendite von 4, 5, 6 Prozent ist. Das nennt man Eigenhandel. Diesen Eigenhandel möchte Präsident Obama jetzt unterbinden, weil sich das verselbstständigt hat. Die Banken spekulieren also mit unseren Steuergeldern. Sie zahlen zwar zurück, kassieren aber die Differenz. Früher war es umgekehrt: Die Banken hatten ein Sparvolumen von Sparern, das ist Geld, das den Sparern gehört. Daraus haben sie für ihre Kredite geschöpft und mit dem Sparer geteilt, was sie vom Schuldner kassiert haben. Heute ist das nicht mehr der Fall, dadurch entsteht eine Kreditklemme.

Burkhard Müller
Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es Zeit für eine kurze Pause ist.

(Kantor Thomas Frerichs am Klavier und Bettina Scheibler an der Geige spielen den Karnevalshit: „Wer soll das bezahlen, wer hat soviel Geld“. Die Gemeinde singt froh gelaunt mit.)

Frank Lehmann
Das weiß man auch im Karneval. Geld regiert die Welt.

Burkhard Müller
Sie sind ja bekennender Karnevalist. Das war Musik für Sie und für uns alle. Wer hat so viel Geld? Es steht gerade in der Zeitung, dass Sozialhilfeempfänger*innen 20 Euro Kindergeld zurückzahlen müssen, die ihnen aus Versehen zugeschustert worden sind. Der Fehler ergab sich aus der kurzfristigen Verabschiedung eines Gesetzes zur Konjunkturförderung ab 1. Januar 2010, …

Frank Lehmann
... das Wachstumsbeschleunigungsgesetz.

Burkhard Müller
Ja, danke, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, für jedes Kind 20 Euro mehr. Die Familien werden gefördert, aber die Sozialhilfekinder letztlich nicht. Die Steuerzahler*innen mittleren Einkommens bekommen mehr als 20 Euro pro Monat, denn für sie gibt es einen Steuerfreibetrag. Da kommen sie auf etwa  40 Euro pro Monat. Daran sieht man erschreckend an ganz kleinen Zeichen: Arm und reich wird auch produziert. Wer viel hat, kriegt mehr, wer wenig hat, kriegt nichts. Sehen Sie das auch so?

Frank Lehmann
Die Schere entwickelt sich immer weiter auseinander. Ich habe das in den letzten Jahren auch beobachtet und ich gucke sehr stark auf Charts und solche Entwicklungen, mit denen man das optisch darstellen kann. Es ist festzustellen, dass in den letzten Jahren der Faktor Kapital in unserer Gesellschaft einen immer größeren Stellenwert eingenommen hat. Ich war kürzlich in St. Gallen und saß da neben Norbert Walter, dem ehemaligen Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Der meinte: „Profit without production, Lehmann, das ist das Ziel!“ Ich fragte: „Das soll das Ziel sein?“ Da sind wir wieder. Profit, ohne etwas zu produzieren. Das erzählt mir ein sehr angesehener Ökonom. Dadurch wird sich die Schere weiter öffnen und wir müssen jetzt aufpassen, dass wir keine sozialen Unruhen wie in Frankreich erleben. Wir haben in Deutschland immer den sozialen Frieden gehabt, der ist aber in Gefahr, wenn sich das weiter auseinanderentwickelt.

Talk Teil 4:  „Jetzt müssen wir die gesunde Mischung finden“

Burkhard Müller
Bundeswirtschaftsminister Brüderle hat jetzt den Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt. Es sagt: Die Stufensteuer wird kommen. Besonders die kleineren und mittleren Einkommen sollen entlastet werden. Dann gibt es nur noch Steuersätze von 10, 25 und 35 Prozent. Die Leute, die vorher 43 Prozent zahlten, gehen auf 35 zurück, nehmen wir an, das sind die Leute, die eine Million verdienen, die sparen dabei 8.000 Euro. Derjenige, der 10.000 Euro verdient und 347 Euro Steuern zahlen müsste, wie viel spart der? Wieso kann Brüderle sagen: Besonders die Kleineren haben dabei den Profit? Das ist doch Betupp, oder nicht? Muss man da nicht höllisch aufpassen, dass die Ärmeren, für die die Steuerermäßigung angeblich sein soll, auch wirklich was von haben?

Frank Lehmann
Wir haben doch die Partei mehrheitlich gewählt, die Steuersenkungen versprochen hat, und plötzlich ist die von popeligen 5 Prozent, wo die auch hingehört, bei  ca. 15 Prozent gelandet. Und ist das nicht hochinteressant, dass in unserer Gesellschaft das Thema Steuersenkungen negativ besetzt ist! 58 Prozent der Leute wollen keine Steuersenkung, weil sie genau wissen, dass die Staatsverschuldung so gewaltig gestiegen ist, dass unsere Kinder und Kindeskinder das abzuzahlen haben. -  Ich bin auch einer von den sogenannten Besserverdienenden. Ich bekomme hier von Pfarrer Mörtter gerade mal die Fahrt bezahlt, aber wo ich heute Abend hingehe, bekomme ich ein nicht schlechtes Honorar. Von diesem nicht schlechten Honorar muss ich 43 Prozent an den Staat bezahlen. Ich mache das nebenher, aus Freude. Wieso zieht mir der Staat, der nichts dafür tut, 43 Prozent von dem Honorar ab, was ich heute Abend bekomme? Warum? Ich bin nicht ein Superreicher.

Burkhard Müller
Der Steuerzahlerbund, ein ganz geheimnisvolles Unternehmen, sorgt dafür, dass im Juli jeden Jahres ein Steuerzahlertag ist. Bis dahin hat man nur für den Staat gearbeitet. Eigentlich meine ich, müsste man etwas ganz anders machen. Man müsste nämlich einen Festtag der Rückzahlung des Staates an die Bürger*innen machen, denn alles, was der Staat kriegt, kriegen wir ja wieder. Die investieren in gute Straßen, in Schulen, 25 Prozent gehen in die Renten, 14 Prozent in die Gesundheit, also – im Grunde genommen muss man das anders sehen: Der Staat nimmt uns nichts weg, sondern der gibt uns so viel. Der Staat hilft uns, dass Sie von Ihrem Vortrag, den Sie heute Abend halten, sich daran beteiligen. Dafür verdienen Sie ein herzliches Dankeschön! - Es gibt Leute, die sagen, dass wir einen schlanken Staat brauchen. Was halten Sie von diesem Schlagwort?

Frank Lehmann
Ist richtig, wir brauchen den schlanken Staat, der wichtige Hoheitsaufgaben abdeckt, sich aber als Unternehmer weitgehend raus hält. Nur hat man die so genannte Deregulierung (sprich: Privatisierung) übertrieben, hat den Märkten zu sehr vertraut.
Das hat eben zu dieser Katastrophe geführt, dass die Märkte plötzlich im Exzess schwammen. Kein Sozialismus mehr, nur noch der Kapitalismus, wir schöpfen aus dem Vollen, den Staat kannst du vergessen, jetzt sind die Finanzmärkte an der Macht. Für mein Umfeld, für meine Gemeinde habe ich keine Verantwortung mehr. Heute ist man vielleicht immer noch in der Welt zu Hause, aber jetzt sehnt man sich wieder nach der Heimat. Es heißt jetzt nicht mehr Globalisierung, sondern Lokalisierung. Bei den Familien heißt es Regrounding. Wir sind wieder bodenständig, zurück zur Familie, zurück zu deiner Gemeinde und zurück zur eigenen Volkswirtschaft. Nachdem das Rad derart überdreht worden ist, zieht man sich zurück. Dann ist auch plötzlich der Staat wieder gefragt. Wir haben uns in die Scheiße geritten, Staat rette uns, wir schaffen es alleine nicht mehr. Ein Mann, der dafür steht, ist Herr Ackermann. Bei uns rechnet sich das so: 1 Ackermann = 14 Millionen. Da gibt es aber welche in seinem Haus, die verdienen drei Ackermänner, also 32 Millionen. Sein Name steht als Symbolfigur dafür. Leider ist die Staatsquote jetzt so hoch, dass wir jetzt sehen müssen, dass der Staat, den wir als Retter gerufen haben, nicht in eine Hybris verfällt wie die Banker und sagt: Ich kann alles besser. Das kann er eben nicht. Jetzt müssen wir die gesunde Mischung finden.

Burkhard Müller
Sie haben ein interessantes Schlagwort, Staatsquote, gebraucht. Das ist für mich ein ganz diffuser Begriff.

Frank Lehmann
Der Anteil des Staats an den gesamten Ein- und Ausgaben, der liegt bei uns bei über 50 Prozent, müsste aber bei 30 Prozent liegen. Dann könnte die Wirtschaft wieder aufatmen. Es gibt eine wunderschöne Formulierung von Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt.: „Was wir erlebt haben und jetzt noch erleben, ist eine Kombination aus hoher Intelligenz gepaart mit fantastischer, mathematischer Begabung, in Zusammenarbeit mit hoher Selbstbereicherung und Exzessen“ – und jetzt kommt es – „in Abwesenheit von normaler Urteilskraft und Verantwortungsgefühl.“ Dann kam die Gegenbewegung, dass der Staat eingreifen musste.

Burkhard Müller
Noch mal zur Staatsquote. Wenn wir mehr Rentner*innen haben, weil wir älter werden, steigt die Staatsquote ganz von selbst. Da macht der „böse“ Staat gar nichts dran, sondern das steigt. Wenn, zum Beispiel, Polizei abgebaut wird und private Sicherheitsdienste das übernehmen, dann sinkt die Staatsquote. Das ist doch nur ein Vorteil, wenn auf den Bahnhöfen private Sicherheitsdienste das machen. Die Staatsquote sinkt.

Frank Lehmann
Das ist richtig.

Burkhard Müller
Wenn die Stadtwerke verkauft werden, sinkt die Staatsquote. Man erkennt, dass man Quatsch damit gemacht hat. Überall kaufen sie die Stadtwerke zurück. Das heißt, diese Orientierung an der Staatsquote – ist meiner Meinung nach Quatsch.

Frank Lehmann
Man muss das sehr differenzieren. Der Staat hat sich völlig überhoben. Gucken Sie mal die Landesbanken an, da ist der Staat drin und sagt, wir können es besser. Können sie es besser? Überhaupt nicht. Ein Debakel.

Burkhard Müller
Nein, die haben sie verhalten wie die anderen Banker*innen. Das war der Fehler, die haben gezockt wie die Privaten.

Frank Lehmann
Es ist eine Frage der Mentalität. Nicht weit entfernt von hier sitzt die Westdeutsche Landesbank, die sehr junge Händler*innen hat. Die habe ich mal gefragt: „Warum habt ihr euch so verzockt?“ Die meinten: „Wissen Sie, Herr Lehmann, wenn ich hier ein großes Rad drehe, hinter mir sitzt kein Aktionär, der auf sein Geld achtet, da sitzt der Staat, da sitzt die Landesregierung, Nordrhein-Westfalen, da sitzen die Sparkassen. Ich kann also ein viel größeres Rad drehen als ein Banker, der in Frankfurt sitzt und einem Herrn Ackermann gegenüber verantwortlich ist.“  Diese Mentalität – hinter mir sitzt der Staat und der regelt das schon alles –, das setzt sich in vielen staatlichen Unternehmen fort. Deswegen ist der Staat auf Dauer der schlechteste Unternehmer.

Burkhard Müller
Aber, nein, nein, die Lehman Brothers, mit denen alles angefangen hat, waren privat. Die haben gezockt, das ist wie eine Wette und beim Wetten kann man gewinnen und verlieren.

Frank Lehmann
Dein Handel sei es, dich zu beherrschen, meinte Goethe. Tugenden gelten wieder, Verantwortung, Ethik und Moral gelten wieder. Das war ja weg. Hoffentlich führen wir auch Regeln ein, dass die Herrschaften ihre Exzesse nicht morgen wieder machen, denn der Kasinobetrieb ist teilweise schon wieder losgegangen.

Burkhard Müller
Unsere Wirtschaft wurde in den letzten 10 bis 15 Jahren sehr stark von den Theorien des US-amerikanischen Ökonom Milton Friedman**** bestimmt. Der sagt zum Beispiel: „Es gibt keine Verantwortung des Einzelnen für seine Mitbürger. Jeder sorgt allein für sich selbst. Die soziale Verantwortung der Unternehmer besteht darin, Profite zu erwirtschaften, Punkt. Schulpflicht soll abgeschafft werden, Bildung ist Privatsache. Der vorherrschende Glaube an soziale Gerechtigkeit ist gegenwärtig die schwerste Bedrohung der meisten anderen Werte einer freien Zivilisation.“ Mich würde interessieren, ob Sie in einer Schule auch jemanden wie Friedman durchnehmen würden. Das ist doch Gift. Das Konzept sollte sein: Habt Verantwortung füreinander! Oder nicht?

Frank Lehmann
Ja, natürlich. Ich kann Ihnen genauso gut andere nennen. Wer ja jetzt momentan auch wieder gefeiert wird, ist John Maynard Keynes***, ein Wirtschaftswissenschaftler des letzten Jahrhunderts.

Burkhard Müller
Durch die Pleite kommt der wieder hoch.

Frank Lehmann
Ja. Warum kommt er hoch? Weil er gesagt hat: Wenn die Wirtschaft ausfällt und der Verbraucher nichts tut, weil ihm das alles nicht geheuer ist, dann muss der Staat, wie jetzt geschehen,  mit Konjunkturprogrammen eingreifen. Das hat auch sein Gutes. Aber generell, lieber Herr Müller, sollte über allem stehen: Eigentum verpflichtet. Oder: Salus publica suprema lex, das öffentliche Wohl ist das oberste Gesetz. Wenn wir uns dem gegenüber verpflichteten, dann könnte man sogar mal über die Stränge schlagen. Zunächst müssen wir aber auf den Pfad der Tugend zurückkehren. 

Talk Teil 5:  „Momentan ist die Stimmung sogar besser als die Lage“

Burkhard Müller
Danke schön für diese Worte! Sie sind auch kirchlich engagiert. Sie stehen im Programm als bekennender Protestant, aber haben mir vorhin erzählt, dass Sie sehr, sehr nahe Beziehungen zur katholischen Kirche haben und sich ihr verpflichtet und verbunden fühlen.

Frank Lehmann
Sehr nahe klingt gut. Meine Frau ist katholisch.

Burkhard Müller
Das heißt, Sie kennen beide Kirchen. Wie gehen Kirchen mit Geld um?

Frank Lehmann
Schlecht. Ein Pfarrer muss auch ein Manager sein, obwohl er das im Regelfall nie gelernt hat. Das ist meine feste Aufgabe, in der katholischen Gemeinde, in der ich mich engagiere. Ich bin aber Protestant geblieben, weil mich die katholische Kirche damals nicht verheiraten wollte, weil wir eine Mischehe waren. Deshalb sage ich: Da bestrafe ich euch und bleibe weiter evangelisch. Aber ich bin der katholischste Protestant in unserer Gemeinde. Auch da wird mit dem Geld geaast. Denn da ist kein betriebswirtschaftliches Denken vorhanden. Wir haben jetzt eine Betriebskostenabrechnung eingeführt, da wurde sogar diskutiert, ob das notwendig ist. Natürlich brauchen wir das! Dieses Kostenbewusstsein hat Pfarrer Mörtter hier sehr ausführlich. Ich habe gehört, dass er die Räumlichkeiten auch vermietet. Solches Denken muss in Pfarrer hinein. Ich lehne es als Christ ab, dass Häuser abgerissen werden, weil man die sich angeblich nicht mehr leisten. Nein. Da muss man alles Mögliche erfinden, wie er hier. Ein Gotteshaus darf nicht abgerissen werden, das ist meine feste Überzeugung.

Burkhard Müller
Herr Mörtter hat vorhin, als wir zusammensaßen, tatsächlich viel von Geld geredet. Er sagte, dass er ein Prinzip habe: in ein soziales Projekt Geld hineinstecken, ob ich es habe oder nicht, das kommt hinterher wieder. Dann hat er Fälle bezeichnet, in denen das tatsächlich funktioniert hat, in denen er plötzlich Geld in die Hand gedrückt bekam. Manchmal ging es da auch um große Summen. Was sagen Sie dazu? Ist das ein gutes Wirtschaften?

Frank Lehmann
Aber natürlich. Wenn Sie investieren und dann bekommen Sie eben. In die sozialen Projekte, vor allem in die Bildung müssen wir investieren, und wir kriegen es mannigfach zurück. Ich sage immer: Meine beste „Investition“ sind meine Kinder, in die habe ich voll investiert und die schenken mir das mit Renditen zurück, die sind abenteuerlich gut.

Burkhard Müller
Wir müssen leider zum Schluss kommen. Haben Sie noch einen schönen Spruch für uns zum Abschluss?

Frank Lehmann
Wir müssen optimistisch sein und momentan ist die Stimmung sogar besser als die Lage, was hochinteressant in Deutschland ist. Weil wir hier in der Lutherkirche sind, ein Zitat von Luther: „Aus einem verzagten Hintern entfleucht kein fröhlicher Furz.“

Burkhard Müller
Das war wirklich ein kluges Wort zum Schluss und das begleitet uns jetzt. Ich bedanke mich ganz herzlich, dass Sie gekommen sind und so lebhaft, interessant und engagiert geredet haben,  vor allem, als es um die soziale Verantwortung ging.

Frank Lehmann
Vielen Dank!

Burkhard Müller
Herzlichen Dank, es war mir ein Genuss und eine Freude!

Redigiert von Helga Fitzner

Kleines Glossar von Wirtschaftsbegriffen

* „Salus publica suprema lex“
das öffentliche Wohl ist das höchste Gesetz
stammt von Marcus Tullius Cicero, Redner und Staatsmann im Römischen Reich, 106 bis 43 v. Chr.

** Bretton-Woods-System
Bei der Konferenz in Bretton Woods, USA, wurde 1944 die Einführung eines internationalen Finanzsystems beschlossen, das auf festen Wechselkursen basierte und dessen Leitwährung der US-Dollar wurde. Es entstand die Weltbank und der Internationale Währungsfonds IWF. Von 1949 bis 1970 galt dieses System auch in der Bundesrepublik Deutschland. Das System brach zusammen, als die USA sich nicht mehr daran hielten, weil der Vietnamkrieg mit den vorhandenen Reserven nicht finanzierbar war. Das war der Anfang einer zunehmenden Deregulierung der Finanzmärkte.

***John Maynard Keynes (1883 – 1946), britischer Ökonom und Politiker
Sein Werk ist geprägt von den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise 1929, als deren Ursache er fehlende staatliche Einflussnahme sah. Die staatliche Lenkung hielt er u. a. aus dem Grund für gerechtfertigt, weil die Investitionsentscheidungen des Staates frei von den „animalischen Instinkten“ der Privatwirtschaft sei. Keynes hatte Idealvorstellungen eines Wohlfahrtstaates.

**** Milton Friedman, (*1912, + 2006) US-amerikanischer Ökonom, Begründer des Monetarismus.
Friedman war 1971 Berater der US-Regierung unter Präsident Nixon. Auf seine Empfehlung wurde das 1971 das Bretton-Woods-System abgeschafft. Er minderte damit den Einfluss des Staates auf den Wechselkurs, wodurch diese auf den Devisenmärkten frei ausgehandelt werden konnten. Die Inflation und den Wohlfahrtsstaat bezeichnete er 1980 als die größten Feinde der Wirtschaft. Friedman zeigte, dass der von John Maynard Keynes unterstellte Multiplikatoreffekt staatlicher Ausgaben in der Realität kaum nachweisbar ist. Er hielt eine unabhängige Notenbank, die Geld- und Warenmenge miteinander abwägt, für ausreichend. Der Staat habe sich ansonsten aus der Wirtschaft herauszuhalten, weil der Kapitalismus von alleine sein optimales Gleichgewicht fände.

***** Neoliberalismus
Der Begriff Neoliberalismus war schon 1938 bei seiner Entstehung auf einer Konferenz in Paris umstritten. Man wollte sich vom Laissez-faire-Liberalismus distanzieren und sah moderate Eingriffe des Staates in die Wirtschaftspolitik vor. In Deutschland herrschte zu der Zeit das Dritte Reich und in den Nachkriegsjahren die Soziale Marktwirtschaft des Ludwig Erhard. In den 80-er Jahren wurde der Begriff wiederentdeckt. Da es etliche Deutungsmöglichkeiten und Schulen des Neoliberalismus gibt, ist eine exakte Verwendung des Wortes ohne Interpretation gar nicht möglich. Heute steht er eher für Deregulierung, also WENIGER Einfluss des Staates auf die Wirtschaft. Es gibt Befürworter*innen der sozialen Marktwirtschaft, die den Neoliberalismus als Schreckgebilde propagieren, andere werten ihn als allein selig machenden Weg aus der Krise.

Zusammengestellt von Helga Fitzner 

Talkgottesdienst mit Frank Lehmann, Moderation Pfarrer Burkhard Müller, Foto: Lothar Wages
Talkgottesdienst mit Frank Lehmann, Foto: Lothar Wages
Talkgottesdienst mit Frank Lehmann und Pfarrer Hans Mörtter, Moderation: Burkhard Müller, Foto: Lothar Wages