Flüchtlinge sind „Botschafter der Ungerechtigkeit“
Hans Mörtter
Wie ist das mit deinem Wunsch zu helfen – woher kommt der?
Elias Bierdel
Du passt aber auf! Dachtest du, ich wollte mich vor der Frage drücken? - Also, ich empfinde das gar nicht so sehr als Wunsch, zu helfen, aber ich bin – obwohl das heute ein Wort ist, was schon geradezu mit einem mitleidigen Lächeln benutzt wird –, ich bin ein Weltverbesserer. Und zwar in dem Sinne, dass es eher ein bisschen besser ausschauen soll, wenigstens in irgendeinem Bereich, für bestimmte Menschen vielleicht, wenn ich einmal nicht mehr da bin. Das finde ich völlig normal und bin sehr erstaunt, dass das in manchen Kreisen heute fast als Schimpfwort gilt. Ein Weltverbesserer, das sei ein Spinner oder so. Das finde ich überhaupt nicht. Wobei ich das mit dem Helfen auch schwierig finde, weil ich weiß: Es gibt manchmal so ein überschießendes Bedürfnis von Menschen, sich selbst als gut und hilfsbereit zu erfahren und in diesem Namen kann leider auch sehr viel angerichtet werden. Das erlebt man auch in der humanitären Hilfe. Da hat die Hilfe manchmal den unangenehmen Beiklang, dass sie eine Hierarchie herstellt – ich bin der Helfende und du bist der, der Hilfe annehmen muss. Darum hat mir meine Schwester einmal ein altes, chinesisches Sprichwort zugeschickt, das heißt: „Warum hilfst du mir, ich habe dir doch nichts getan.“ Das habe ich seitdem im Hinterkopf. Meine Schwester ist sehr klug und da nehme ich natürlich so einen mahnenden Ratschlag gerne an.
Hans Mörtter
Das Problem haben auch große Hilfsorganisationen, die in den Flüchtlingscamps und Flüchtlingslagern arbeiten. Für die Regierungen der Industrienationen, der G20, ist das natürlich eine herrliche Ausrede. Sie können die Lage dümpeln lassen, die Menschen in den Lagern lassen, denn so lange sie nicht verhungern, besteht kein Handlungsbedarf.
Elias Bierdel
Der Befund ist ganz eindeutig und noch schlimmer. Ich sehe hier auch schon bestimmte Plakate: „Zerstörerisches Soja“, „“Grüne Wüste“, also Hinweise darauf, dass wir nicht darum herumkommen, diese Zusammenhänge zu erkennen: Es ist eine ganz klare Politik, auch der Europäischen Union, also in unseren Namen, weiterhin auf die Ausbeutung unserer Nachbarregionen zu setzen. Durch unsere Agrarsubventionen zerstören wir die Märkte, zum Beispiel in Afrika. Ich finde es fast peinlich, das noch anzusprechen, weil das jeder weiß. Deshalb entscheidet sich das an der Stelle: Sind wir überhaupt bereit, wirklich etwas daran zu ändern?
Hans Mörtter
Nein, da würde ich jetzt widersprechen.
Elias Bierdel
Oder möchten wir uns nur gut fühlen, indem wir im Einzelfall, weil ein Plakat mit einem weinenden Kind zu sehen ist, mal zehn Euro Ablass erwerben, irgendwo?
Hans Mörtter
Richtig, das können wir gut.
Elias Bierdel
Du weißt, was ich meine?
Hans Mörtter
Ja.
Elias Bierdel
Ich finde schon, dass der Schlüssel für Vieles, was da passiert, bei uns liegt. Und am besorgniserregendsten ist der Klimawandel. Der geht auf unsere Verantwortung. Der ganze Kontinent Afrika ist nicht einmal mit 5 Prozent an der Emission von Treibhausgasen beteiligt. Wenn jetzt dort in manchen Regionen, wie die UNO das im Klimareport vorhersagt, demnächst und sehr schnell das Leben gar nicht mehr möglich ist, dann stehen wir doch unmittelbar in der Verantwortung, uns darum zu kümmern, was aus den Menschen, die da nicht mehr leben können, werden soll! Das ist doch klar. An dem Punkt wird es haarig und da ist dann jeder gefragt.
Hans Mörtter
Wir haben es gut. Die meisten von uns hier haben genug zu essen. Es ist sogar so, dass wir die vielen Lebensmittel gar nicht aufbrauchen.
Elias Bierdel
Früher haben wir in großem Maße hier in Europa Lebensmittel sogar vernichtet, das hat mit der Überschussproduktion zu tun. Anderswo verhungern Menschen, etwa eine Milliarde Menschen auf der Welt leiden Hunger, und wir kippen die Sachen weg. Das ist nicht nur peinlich, sondern auch noch richtig teuer. Da hat man jetzt etwas Neues erfunden: wir schmeißen es nicht mehr weg, sondern verschiffen es direkt als Handelsware nach Afrika und anderswohin. Dabei handelt es sich um Waren, die durch die Subventionen bereits bezahlt sind, und das sind nichts anderes als unsere Steuergelder. Die Waren werden z. B. in Westafrika, zu einem Dumpingpreis auf die Märkte geworfen, denn auch 10 Cent pro Kilo Tomaten ist immer noch ein Gewinn. Damit kann ein lokaler Erzeuger aber nicht konkurrieren und so gehen die Strukturen kaputt, so zerstören wir weiter. Dafür gibt es natürlich tausend Beispiele. Der Welthandel ist extrem ungerecht organisiert. Unsere Führer hier, aber auch die „normale“ Bevölkerung, glauben oft noch, dass sie die Gewinner in dieser Geschichte sind, und die anderen haben halt Pech gehabt. Solange dieses Denken vorherrscht, wird das Problem nicht gelöst. Wir können hier kein rauschendes Leben weiter führen - auf Kosten von anderen. Das ist völlig klar zum Scheitern verurteilt. Die Frage ist nur, ab wann das für mehr Menschen sichtbar wird. Zum Thema der Flüchtlingsboote gibt es ein wunderbares Wort von Herbert Leuninger, das ist einer der Mitbegründer von PRO ASYL und kommt aus meiner gesellschaftlichen Lieblingsgruppe „zornige, alte Männer“. Der nennt die Menschen in den Booten „Botschafter der Ungerechtigkeit“. Ich finde das ist ein sehr kluges Wort, weil es aufzeigt: Eigentlich ist jedes Boot, das da kommt, eine hilfreiche Warnung und Mahnung für uns. Ich kann hier allerdings nicht aus einer überlegenen Position heraus sprechen. Wenn ich zu Hause in meinen Küchenschrank schaue und mich frage: Okay, wie viele fair gehandelte Produkte hast du denn jetzt? Dann ist gerade mal der Kaffee. Es ist klar, auch ich bin letztlich ein Wohlstandsmensch, aber ich bemühe mich darum, mich in meinem Konsumverhalten dahin zu bewegen, um sozusagen von unten her Impulse geben zu können.
Was hält uns davon ab, sie wie Menschen willkommen zu heißen?
Hans Mörtter
Es gibt ein Schimpfwort: Wirtschaftsflüchtlinge. Es heißt: „Das sind alles Wirtschaftsflüchtlinge und die muss man sofort wieder zurückschicken. Die haben kein Recht auf Asyl“. Sehr engagierte Katholiken in Italien sagen dagegen: „Jeder Mensch hat von Geburt an das Recht, auf dieser Kugel da zu leben und zu wohnen, wo er will, jeder Mensch“. Da ist nur die Frage, wie mächtig dieser Mensch ist. Aber diese Abkanzelung – Wirtschaftsflüchtlinge – trifft ja gar nicht das Problem. Wir sind mitten in einer Völkerwanderung, die wir selbst verursacht haben, die durch den Klimawandel katastrophal wachsen wird, da wird kein Damm halten und klar ist auch, und alle wissen das, dass die Flüchtlinge es immer wieder versuchen werden. Ist das nicht einfach eine ganz große, anmaßende Lüge, zu sagen: Wirtschaftsflüchtlinge?
Elias Bierdel
Allerdings. Zunächst einmal: Diese Utopie einer Welt, auf der man sich frei bewegen kann, wo man an jedem Platz zu Hause sein darf, die ist verwirklicht: allerdings nur für westliche Touristen. Du kannst auf der ganzen Welt sein, wo du willst. Du hast Kohle, du hast alles, was du willst, so ein europäischer Pass ist wie ein Freifahrtschein. Nur für die allermeisten Menschen auf der Erde ist das eben nicht so, das ist schon mal die erste Ungleichbehandlung, die sofort auffällt. Anmaßend – ja, selbstverständlich, und das ist auch eine Frage, die jeder Christ sich stellen muss. Sind wir jetzt alle die gleichen Wesen in Gottes Angesicht oder gibt es da nicht erhebliche Unterschiede?
Wegen des Ansturms der Flüchtlinge werden Ängste geschürt, da heißt es: "Um Gottes Willen, die können doch nicht alle zu uns kommen." Das wollen die auch überhaupt nicht, wenn wir nur aufhören würden, sie zu vertreiben oder ihnen auf die ein oder andere Weise das Leben in ihrer Heimat unmöglich zu machen. Aber wenn sie schon hierher kommen, auf diesen furchtbar gefährlichen Wegen, was hält uns denn davon ab, sie wie Menschen willkommen zu heißen? Als ich in Afrika und anderen Ländern unterwegs war, bin ich von ganzem Herzen willkommen geheißen worden, da kenne ich viele, speziell afrikanische Dörfer, in denen man diese herrliche Erfahrung machen kann. Welche Art von Krankheit hat uns eigentlich befallen, dass wir nicht mehr in der Lage sind, einem Menschen zu sagen: "Um Gottes Willen, wo kommst du denn her? Was hast du denn durchgemacht? Jetzt setz dich mal hierher, jetzt kriegst du einen Tee und dann erzählst du und dann gucken wir, was wir machen können." Ich rede jetzt gar nicht davon, wie ich die Asyl-Gesetze finde. Ich finde das alles schrecklich und heuchlerisch. Aber es gibt Spielräume, in denen wir sozusagen eine einfache Menschlichkeit praktizieren könnten, und ich weiß nicht, woran es liegt, dass das für ganz viele Leute so furchtbar schwer ist. Es gibt natürlich auch sehr ruhmreiche und hoffnungsgebende Ausnahmen überall.
Hans Mörtter
Die Berichte, die man liest, sind wirklich erschreckend. Handelsschiffe, Yachten und andere Schiffe im Mittelmeer fahren einfach an den Flüchtlingsbooten vorbei. Einmal haben Überlebende erzählt, dass ein Matrose etwas zu Essen und zu Trinken ins Boot heruntergeworfen hat. Da fahren Schiffe an einem Boot in Seenot, voll mit Menschen, vorbei und lassen die absaufen. Ein Handelsschiff würde Zeit verlieren. Da geht es auch um Geld und um den Ärger, den man sich einhandeln könnte. - Deswegen habe ich die Fotos mit den Gesichtern und Namen der 37 Flüchtlinge, die ihr auf der Cap Anamur hattet, aus deinem Buch kopiert und hier in der Kirche verteilt. In den Zeitungen stehen immer nur Zahlen. Die Flüchtlinge von der Cap Anamur haben Namen. Michael Soholi, Seidu Alhassan, Stanley Musa und Mohammed Yussif und viele andere.
Elias Bierdel
Das macht für mich natürlich einen riesigen Unterschied, dass ich diese 37 kennengelernt habe bei dieser Geschichte im Sommer 2004, und ich denke an Einzelne, z. B. , an Bawa Jassah. Ich weiß gar nicht, wo sich sein Bild hier befindet. Bawa hat mich unglaublich beeindruckt, ein ganz toller Typ, schlau, fleißig, präzise und begierig, alles aufzunehmen und zu lernen. Wir finden das normal, dass es in seiner Gegend keine Schule gibt, nicht einmal eine Volksschule. Gleichzeitig sagen wir: "Du kannst nicht zu uns kommen und hier eine Ausbildung machen." Aber das ist dumm, denn es wäre ein Riesengewinn für die ganze Welt, wenn Menschen wie Bawa studieren könnte. Manche Leute hier glauben, das wäre normal so, natur- oder gar gottgegeben, dann hätten sie halt Pech gehabt, lebten in der falschen Gegend. Das ist im Zeitalter der Globalisierung besonders absurd: Entweder gehören wir jetzt alle zusammen, oder nicht. Und wenn – was hält uns davon ab, zu sagen: „So, jetzt komm mal her, dumm bist du nicht, mein Freund, und jetzt wird hier mal richtig reingepaukt“. Das am besten so, dass er anschließend in seinem Heimatland wieder was bewegen kann. Was wir aber machen, – und das ist so typisch – ist genau das Gegenteil: Wir versuchen gerade, für ein paar Hundert Euro mehr, Leute aus Entwicklungsländern abzuwerben, Blue Card heißt das jetzt auf EU-Ebene. Wir haben es schon früher versucht mit der Green Card speziell für Computerexperten aus Indien. Das ist ein schrecklicher, ausbeuterischer Versuch. Da sind jetzt Leute, die sind schon ausgebildet in ihren Ländern – und das ist ganz schwer und kostet viel Geld –, und dann kommen wir und kaufen die mal eben weg. Aber so sind wir halt hier, ich sage immer „wir“, obwohl ich ja hoffe, dass das für die meisten hier schon eigentlich nicht mehr zutrifft, aber das ist einfach unsere Mentalität. Interessanterweise haben jetzt immer mehr junge Menschen kapiert, wohin der Hase rennt. Ich habe auch Kontakte zu Indern. Die sagen ganz selbstbewusst: "Nein, darauf lassen wir uns nicht ein. Dann bist du ein paar Jahre da, verdienst Geld, darfst aber deine Familie nicht nachholen und eventuell, wenn du Pech hast und vielleicht eine dunkle Hautfarbe hast, fällst du noch nachts aus einem Vorortzug, irgendwo, im Brandenburgischen." Das ist nicht so verlockend. Deutschland ist aus dieser Perspektive eigentlich dabei, den weltweiten Wettbewerb um die besten Köpfe zu verlieren. Unsere eigene Jugend sucht ihre Zukunft oft im Ausland und in internationalen Studien, und hier kommt auch kaum noch jemand gerne her, wenn wir so weitermachen. Das ist eine ganz schlechte Politik. Aber im Moment kann man noch Politik machen mit diesen einfachen Ängsten vor Überfremdung.
Hans Mörtter
Die demografische Entwicklung ist eindeutig: Wir sind eine zunehmend überalterte Gesellschaft. Die afrikanischen Flüchtlinge, also der Hauptstrom sind hauptsächlich 20- bis 40-Jährige, hauptsächlich Männer, die von ihren Familien entsendet werden mit der Aufgabe, die Existenz für sie zu sichern. Die Summe der Rücküberweisungen von illegal in Europa Beschäftigten beträgt ein Vielfaches der Entwicklungshilfe.
Elias Bierdel
Die Leute arbeiten zu lassen, ist eigentlich die effektivste Art der Entwicklungshilfe, denn die schicken das Geld an Leute, die es wirklich brauchen, nämlich ihre eigene Familie. Dagegen ist alles, was auf dem staatlichen Sektor läuft, sehr schwer zu kontrollieren. Kofi Annan, der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat vor einigen Jahren, als er hier den Sacharow-Preis entgegengenommen hat, eine Rede gehalten und sinngemäß gefragt: „Warum macht ihr die Grenzen dicht? Wisst ihr nicht, dass ihr mindestens 50 Millionen Zuwanderer braucht, um die Existenz eurer Sozialsysteme aufrecht zu erhalten?“ So etwas wird in den deutschen Zeitungen in der Regel nicht abgedruckt.
Offensichtlich gibt es – speziell, was die Afrikaner anbetrifft – auch noch ein ganz massives, rassistisches Ressentiment, das müssen wir leider konstatieren. Wenn die auf 15.000 geschätzten Toten, die wir jedes Jahr an unseren Außengrenzen haben, weißer Hautfarbe wären, hätten wir aller Wahrscheinlichkeit nach eine völlig andere Diskussion.
Ich würde gerne noch einmal den Begriff Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen. Vor zwei Jahren haben in Deutschland kurz hintereinander zwei Auswanderermuseen eröffnet, übrigens sehr schöne, große Museen, in Hamburg und in Bremerhaven. Die erinnern daran, dass so ab Mitte des 19. Jahrhunderts Millionen Deutsche eine bessere Zukunft woanders gesucht haben. Viele haben diese auch gefunden. Die allermeisten – bis auf das letzte Kapitel im Dritten Reich – sind nicht wegen politischer Verfolgung aufgebrochen, sondern weil sie entweder nicht genug zu essen hatten, oder einfach mehr aus ihrem Leben machen wollten, als ihnen unter den jeweiligen Fürsten, unter denen sie hier leben mussten, möglich erschien. Ist es nicht merkwürdig, dass unsere Gesellschaft die eigene Auswanderungsgeschichte einerseits so groß feiert, und andererseits Leute, die genau mit denselben Motiven zu uns kommen – und das sind ja nicht die Schlechtesten, die diesen Pioniergeist haben –, dass wir denen entgegen rufen: „Nein, nein, nein, du aber nicht, mein Freund. Du wirst doch gar nicht verfolgt“. Aber wie will man das nachprüfen? Da drüben habe ich eben das Bild von Sham gesehen. Der Sham hatte uns schon auf dem Schiff erzählt, dass er als 17-Jähriger davongelaufen ist, weil er mit ansehen musste, wie sein Vater, ein lokaler König im Norden von Ghana, hingerichtet worden ist und 80 Mann des Hofstaats mit ihm. Da er sein Sohn war, ist er geflohen. Der ist dann nach Jahren auf so einem Boot nach Europa gekommen und wurde direkt abgeschoben. Man hat ihn nicht einmal angehört. Aber selbst, wenn er gehört worden wäre, hätte man ihm sagen müssen: „Ja, mein Freund, ist dumm für dich, aber wir können nichts tun, weil unser Gesetz es nicht her gibt. Nach unserem Gesetz bist du staatlich nicht verfolgt?“ – Jetzt darf ich ein bisschen pathetisch werden: Für mich wohnt im Asylrecht der Geist des Bösen. Da ist etwas drin, was mit Vernunft nichts zu tun hat und mit Menschenwürde, Herz und Glauben schon gar nicht. Da ist was Böses, wovon ich meine, dass man das offensiv bekämpfen muss.