Peter Clös
Ich möchte jetzt eine Stelle aus dem Buch zitieren „Blick auf einen fernen Berg“, das ist dieses Buch, das Herr Wellershoff über seinen Bruder geschrieben hat. Da kommt folgende Stelle vor, die uns ganz kurz den Charakter des Bruders umreißt und auch Ihren Charakter. Der eben auf das unterschiedliche Kartenblatt verweist, das bei diesem Kartenspiel Leben die beiden Brüder bekommen haben.’„Es ist keine schlechte Erinnerung, arm gewesen zu sein, wenn es einem gelungen ist, sich allmählich aus der Armut herauszuarbeiten. Bei uns (gemeint ist Ihre Familie) war das ein langsamer, aber stetiger Prozess. Bei meinem Bruder ein dramatisches Auf und Ab mit katastrophalen Einbrüchen und überraschenden neuen Erfolgen.
Abwechselnd war er viel wohlhabender oder viel ärmer als wir. Doch machte ihn das nicht vorsichtiger, sondern ungeduldiger und waghalsiger, als fehle ihm der Instinkt für Gefahr. Immer eilte er der Entwicklung voraus und rechnete mit Erfolgen, die noch nicht sicher waren, und um sicher zu sein, baute er komplizierte Konstruktionen auf, nicht bedenkend, dass er damit nicht nur seine Chancen, sondern vor allem auch seine Risiken vermehrte. Er war ein Schachspieler, der gleichzeitig an vielen Brettern spielte und immer auf Angriff und mit vollem Risiko. Wenn er mir seine simultanen geschäftlichen Unternehmungen und Spekulationen erklärte, hatte ich manchmal Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Es waren weitläufig verknüpfte Vorgänge, deren wichtigster Halt er selbst war. Seine Intelligenz, seine Arbeitswut und sein Glück. Niemals hat er damit gerechnet, dass ihm etwas Schwerwiegendes passieren könnte.’ Dieser Text steht mir irgendwie sehr nahe und auch dieses Schicksal. Dieses sich Abrackern für das Selbstverständliche, sag ich mal, und hinterher vielleicht doch immer noch der Meinung sein, das Schicksal war ungerecht.
Dieter Wellershoff
Ich glaube, mein Bruder ist vom Krieg mehr geschädigt worden, als ich, weil er mit zwölf Jahren plötzlich allein war. Vater und Bruder waren beim Militär. Und die Mutter war kurz nach meinem Weggang gestorben. So kam er in ein Internat, in dem lauter Jungen aus vom Krieg zerstörten Familien untergebracht waren, zwischen denen in jeder Hinsicht, aber vor allem ums Essen, ein ständiger Konkurrenzkampf herrschte. Briefe und Besuche hat er nur selten bekommen. Er hat das Leben immer als einen Kampf um einen eigenen Platz verstanden. Darin ähnelten wir uns auch. Aber sein Leben verlief weniger kontinuierlich als meins als ein Auf und Ab zwischen schnellem Erfolg und plötzlichem katastrophalen Scheitern. Er war ein risikobereiter Abenteurer und Glückssucher, dessen erneuter Aufstieg zu einem großen Erfolg von einer tödlichen Krankheit durchkreuzt und beendet wurde.
Das alles ist mit seiner neugierigen Zustimmung in vielfach umgewandelter Form auch in meine Bücher eingegangen. Das Buch, aus dem Sie zitiert haben, ist allerdings im Unterschied zu den Romanen und Erzählungen, durch die sich fiktional verwandelte Spuren seiner realen Existenz ziehen, ein autobiografischer Lebens- und Sterbensbericht, in dem nichts erfunden ist. Manchmal ist die Realität ausdrucksvoller und phantastischer als jede Phantasie.
Ich habe es anfangs schon gesagt, möchte aber im inzwischen erweiterten Zusammenhang noch einmal darauf zurückkommen: Die Literatur ist in meinem Verständnis in all ihren unterschiedlichen Formen vom Roman über die Lyrik zum Essay ein Medium zur vertieften Darstellung und Wahrnehmung des Lebens. Deshalb auch die Bevorzugung krisenhafter Situationen und problematischer Personen als Sujets für Romane und Erzählungen. Denn in Krisen und Konflikten zeigt sich deutlicher, was normalerweise verborgen bleibt.
Peter Clös
Das zeigt sich immer wieder, auch in meinem Beruf als Schauspieler. Die dramatische Spannung, das, was die Zuschauer fesselt, entsteht aus Gegensätzen und Widersprüchen und den daraus sich anbahnenden Katastrophen.
Dieter Wellershoff
Dabei wird man immer wieder die Erfahrung machen, dass die Negativität und sogar die Schrecklichkeit des dargestellten Geschehens für viele Leser nicht nur starke, aber zweifelhafte Reize sind, sondern auch ein innerer Gewinn. Der Blick öffnet sich in einem angstfreien Sehen und Verstehen für bisher nicht wahrgenommene Aspekte des menschlichen Daseins. Das ist ein Zuwachs an lebendiger Kompetenz.
Peter Clös
Sie haben einmal gesagt; bedrückende Lebenssituationen darzustellen, habe Sie nicht bedrückt, sondern fasziniert.
Dieter Wellershoff
So ist es. Objektivierung ist ein Schritt zur Befreiung. Um das durch eine Analogie verständlich zu machen, habe ich auf das archaische Ritual der Tötung des Sündenbocks hingewiesen, bei dem ein Priester alle Sünden und Vergehen der Menschen auf einen Widder überträgt, der anschließend getötet oder in eine Einöde gejagt wird. Damit gelten die Sünden als getilgt. Eben das geschieht in der Literatur, indem der Schriftsteller seinen fiktionalen Personen die Fehler und Verfehlungen der Zeitgenossen aufbürdet und sie dann als Sündenböcke mit unglücklichen Konsequenzen, vielleicht sogar mit dem Tod, bestraft. Wir lesen es mit erregtem Interesse, keineswegs gleichgültig, doch in schützender Distanz, weil da ein anderer, ein fiktionaler Mensch, an unserer Stelle stirbt.
Peter Clös
Die Darstellung eines Problems ist aber noch nicht seine Lösung.
Dieter Wellershoff
Nein. Das ist die Aufgabe, die durch die Dramaturgie des offenen Schlusses an den Leser weitergegeben wird: Schau Dir alles an und suche Deinen eigenen Weg.
Peter Clös
Zum Abschluss möchte ich noch auf ein Thema eingehen, das uns alle angeht: Die Liebe. Ich zitiere jetzt einen Freud-Schüler, Theodor Reik, der folgendes sagt: ‚Dass besonders diejenigen Menschen disponiert sind, sich leidenschaftlich zu verlieben, die ihr Ich-Ideal nicht annähernd verwirklichen konnten und in einen existentiellen Leerlauf, eine schleichende Sinnkrise geraten sind. Leidenschaftliche Liebe ist das stärkste Heilmittel gegen diese Krankheit, aber möglicherweise auch deren anderes Gesicht. Wo Menschen voll und ganz mit sich zufrieden sind, ist Liebe unmöglich. Gegenseitig aber erkennen sich die Liebenden, wie Gezeichnete und Eingeweihte, an ihrem verborgenen Ungenügen.’
Dieter Wellershoff
Das ist eine Diagnose des Ausnahmezustandes der leidenschaftlichen Liebe, in der die Gefahr ihres Scheiterns schon angedeutet ist. Ja, wer liebt und geliebt wird, ist zunächst einmal gerettet. Alles, was fehlte, alle Glücksgüter, mit denen man nicht gesegnet worden ist, werden durch die erfüllte Liebe, in der sich ein Paar findet, übertrumpft. Im Glücksspiel des Lebens ist die Liebe eine der höchsten Glückskarten, und für das liebende Paar sicher die höchste. Aber weil sie als das einzigartige und unaustauschbare Glück erlebt wird, hängt von ihr auch alles ab. Man stürzt tief, wenn das Glück verloren geht. Die Unhaltbarkeit des Stillstandes führt oft zu einer unbewussten Reaktion. Einer der Partner zettelt Streit an oder inszeniert Krisen, nur um eine Situation herbeizuführen, in der man sich hinterher wieder versöhnen kann. Es ist eine Selbstmordsituation. In meinem Roman „Der Liebeswunsch“ habe ich das Scheitern des Konzeptes der totalen Liebe an der Verschärfung der Verschiedenheiten dargestellt. Die Gefahr ist der Illusionismus, der die Verschiedenheit der Menschen und die daraus entstehenden unvermeidbaren Asymmetrien nicht wahrhaben will und auf einer totalen symbiotischen Übereinstimmung besteht. Das ist die klassische Liebesideologie, an deren radikalen, monomanen Ansprüchen die Liebe in der Regel scheitert. Mir fällt zur Beschreibung des symbiotischen Liebespaares ein Vers von Heinrich Heine ein:
„Die Toten stehen auf.
Die Stunde des Gerichts
ruft sie zu Qual und Vergnügen.
Wir beide bekümmern uns um nichts
Und bleiben umschlungen liegen.“
Hier ist die Selbstgenügsamkeit des symbiotischen Paares dem finalen Weltgeschehen als unangreifbare Eigenwelt gegenüber gestellt. Aber das ist eine perspektivelose Utopie, die nur noch das Jetzt der Vereinigung gelten lässt und sich gegen alle Veränderung sperrt. Und daran muss sie entweder scheitern oder sich verändern.
Auch die leidenschaftliche Liebe ist eingebettet in die Welt. Sie braucht Inhalte und Aufgaben, an denen die Partner wachsen können. Und sie müssen lernen, sich gegenseitig in ihrer Verschiedenheit zu sehen und anzunehmen. Aber das sind dürftige Worte für das, was die Romane zu erzählen haben.