Hans Mörtter
Sie hatten früher auch eine „gestresste“ Sexualität. Nun gibt es viele Männer, die die haben. Sie erzählten von der Erektion, die Sie nicht durchhalten konnten, was bei Ihnen eine klare Folge des Missbrauchs war.
Detlef Korczak
Wenn man frisch verliebt ist, will man seine Sexualität auch leben. Wenn das am entscheidenden Punkt immer einbricht, mag die Partnerin eine Zeitlang damit umgehen können, aber irgendwann wird sie dann doch das Gefühl kriegen: „Wo bleibe ich, was passiert denn da mit mir, werde ich vielleicht auch nur gebraucht, habe ich da vielleicht irgendeinen Menschen, bei dem irgendwas gewaltig nicht stimmt. Vielleicht muss der ja irgendwo in eine Therapie.“ Dennoch das Gefühl zu haben und zu wissen, wenn ich denn mal die Chance hätte, mich hinzugeben, was würde mir denn passieren, wie könnte ich denn dann wirklich auch mit meiner Frau zusammen sein? Das waren sehr viele, sehr schwierige Jahre, die wir da erlebt haben. Das war das, was ich versucht habe, eingangs zu sagen: Ohne Liebe wäre das gar nicht gegangen. Man kann auch nicht von einem Menschen verlangen, dass er nur dafür da ist, einen aufzufangen. Der will ja irgendetwas kriegen, der braucht ja Energie, der braucht das Gefühl, ich werde so genommen, ich werde so geliebt, ich fühle mich getragen, ich fühle mich geschützt.
Hans Mörtter
Wertgeschätzt, geachtet. - Sie hatten auch Schwierigkeiten mit Ihren beiden Söhnen, wenn die sich als die kleine Jungen auf Sie stürzten, Sie umarmten, sich auf Sie drauflegten. Das ist ja furchtbar.
Detlef Korczak
Das war ein Drama für sich. Ich hätte mir aufgrund dieser Situation anfangs lieber Mädchen gewünscht. Ich war bei beiden Geburten dabei und habe zwei supernette Söhne. Der eine war in jungen Jahren etwas zurückhaltender und hat mich ein bisschen mit Distanz behandelt, der andere war das Gegenteil, der schmiss sich auf mich, drückte mich, machte alles mögliche mit mir. Sobald der auf mir lag, bekam ich Schweißausbrüche, Ängste: Was passiert da jetzt, was ist da für eine Erwartungshaltung, wie gehe ich damit um? Das war für mich sehr, sehr schwierig, mich immer wieder da so auf den Punkt zu bringen, zu sagen, ja, das Kind braucht Berührung, das Kind braucht Liebe, das Kind soll ganz anders groß werden als du selber groß geworden bist, das Kind soll nicht das Gefühl haben, einen Kampf zu leben. Es war sehr schwer, das in den ersten Jahren so nehmen können. Ich muss heute noch Entspannungsübungen machen, wenn mich ein Mann anfasst, z. B. ein Arzt, der mich abhören will. Ich bin jetzt 60, es ist lange genug her. Ich habe sehr viel an mir gearbeitet, aber diese körperliche Berührung durch einen Mann bringt mich immer noch einmal in dieses Gefühl von damals zurück. Ich persönlich freue mich, dass ich das heute bei Frauen nicht habe.
Hans Mörtter
Ich freue mich auch für Sie darüber. Unter den missbrauchten Menschen gibt es welche, die das nicht geschafft haben. Die sind auf der Strecke geblieben, einige haben sich getötet. Sie haben irgendwann gemerkt – auch auf Anraten Ihrer Frau hin – dass Sie etwas unternehmen mussten.
Detlef Korczak
Das konnte so auf Dauer nicht weiter gehen und ich habe unterschiedliche Therapien versucht. Allerdings hatte ich nicht gerade das große Glück mit den Therapeuten, an die ich geraten bin. Bei einem war es vielleicht auch etwas Selbstschutz …
Hans Mörtter
War das der mit dem Lehrbuch?
Detlef Korczak
Das war der mit dem Lehrbuch. Ich hatte deutlich das Gefühl, der geht nach einer Liste vor: Wie gehe ich mit einem Missbrauchten um, was muss ich tun, aber überhaupt nicht aus dem Gefühl heraus, was ist denn da bei dem, was passiert da, was geht da gefühlsmäßig ab? Der hat das schön abgearbeitet. Ich habe nachher das Gefühl gehabt, ich würde ihn mehr therapieren als er mich. Dennoch war es ein Schritt, mich mit mir selber auseinanderzusetzen: Wo muss ich hingucken, wo bedarf ich der Heilung, wo ruft die Seele nach was? Dann war ich in einer Gruppentherapie. Viele in der Gruppe waren schon über Jahre mit dabei. Ich war da der einzige Mann und als ich meine Geschichte erzählt habe, sind die Frauen schreiend herausgelaufen. Die konnten das damals noch gar nicht annehmen, dass es vielleicht auch von der anderen Seite sein kann, dass auch Männer missbraucht werden, da war dieses Thema noch tabu. - Bei einer dritten Therapie ging es dann schon besser, aber irgendwann bin ich zu dem Ergebnis gekommen: Therapier dich selber, schau mal genau hin, versuch mal, den Schmerz, der da ist, auch nach außen zu tragen, versuch mal, die Gefühle nach außen zu tragen, versuch mal, auf Menschen mit einer anderen Art und Weise zuzugehen. Da hat natürlich der Glaube einen entscheidenden Beitrag geleistet, denn ich glaube nicht, dass ich sonst gewusst hätte, wie Heilung funktioniert, wenn ich mir nicht den Gedanken gemacht hätte: Es muss einen Sinn haben, dass du dieses Leben so lebst, mit dieser Situation. Es muss etwas dahinterstehen, sonst wärst es nicht du gewesen, dem das passiert.
Hans Mörtter
Für Sie hat es also einen persönlichen Weg gegeben.
Detlef Korczak
Mein persönlicher Weg war schon sehr angebunden an den Glauben daran, dass es vielleicht Wiedergeburt geben kann, dass es Aufgaben gibt, die man im Leben zu lösen hat. Ich bekam dann das Gefühl, begleitet zu sein. Irgend so einen Engel hat man immer an der Seite, auch wenn manch einer das vielleicht nicht glaubt. Ich hatte einen Engel an der Seite, das Gefühl, in meiner Spiritualität getragen zu sein und vielleicht auf das zu hören, was die Seele als Botschaft hat. Ich habe aufgehört, mich zu verschließen und meiner inneren Stimme zu misstrauen, und bin in das Vertrauen gegangen, dass da etwas in uns ist, durch das wir Heilung finden können. Man kommt da nicht immer dran, aber mir hat es Halt gegeben. Leider gibt es viele Menschen, die es nicht haben schaffen können, da kann ich nur sagen, es ist nicht so einfach, es zu schaffen.
Hans Mörtter
Mich hat das sehr beeindruckt. Sie haben eine Selbsttherapie vorgenommen, die aus drei Schritten bestand. Was für Prozesse laufen da ab?
Detlef Korczak
Eine wichtige Erkenntnis war die, dass ein Kind anders empfindet als ein Erwachsener. Als Kind bin ich an jemanden geraten, der die tiefe psychische Fähigkeit hatte, mich an sich zu binden. Heute ist mir klar, dass man das als Kind gar nicht bewältigen kann. Dennoch kommt ein Schuldgefühl auf und man fühlt sich befleckt. Ein Kind kann sich nicht abgrenzen, wie ein Erwachsener, der Grenzen setzen kann, ohne Gefahr zu laufen, sofort bedroht zu werden. Zu meiner Zeit wurden Kinder dafür oft bestraft. Es sind andere Mechanismen, die da abgelaufen sind. Als Erwachsener wurde mir erst schrittweise klar: Ich hatte als Kind noch gar kein Bewusstsein, eine Änderung herbeizuführen oder mich zu retten. Es wäre schön gewesen, wenn mich jemand gerettet hätte, aber es war keiner da.
Hans Mörtter
Hätte auch nicht lange angehalten, wahrscheinlich.
Detlef Korczak
Höchstwahrscheinlich nicht. Das ist ein langwieriger Prozess, bei dem man immer wieder in Depressionen fallen kann, wo man dunkle Tage hat, wo man die Bilder des Missbrauchs wieder sieht, wo man eingeholt wird von dem Erlebten, wo man in irgendeiner Zeitung einen Bericht liest und plötzlich vollkommen abstürzt. Es ist doch schlimm, dass es immer noch genug Menschen gibt, denen das passiert, und dass man hofft, dass viele Leute einfach wacher werden und besser hingucken. Missbrauch ist so was Ähnliches wie ein Fingerabdruck. Kein Fingerabdruck gleicht dem anderen. Der Missbrauch ist ein Kern von mir, den ich heute aber tragen kann. Heute kann ich hingucken, heute weiß ich, dass es so ist, ich traure nicht mehr den Jahren nach, wo ich mir gewünscht hätte, es wäre anders. Heute ist einfach der Blick nach vorne.
Hans Mörtter
Da denke ich an die archaische Geschichte im 1. Buch Mose, Kapitel 32.
Jakob will nach langer Zeit in der Fremde nach Hause, um sich wieder mit seinem Bruder Esau zu versöhnen. Er weiß nicht, ob sein Bruder immer noch wütend auf ihn ist und ihn töten wird. Um ihm und damit seiner Vergangenheit zu begegnen, muss er über den Fluss Jabbok, um seinen nötigen Weg zu gehen. Dabei begegnet er Gott, der ihn nicht einfach über die Furt lässt. Beide ringen und kämpfen miteinander. Für Jakob geht es um seine Existenz. Er lässt Gott nicht und klammert sich fest. Gott sagt, lass mich los. Eine wunderbare Geschichte. Denn Jakob antwortet: Ich lasse dich nur los, wenn du mich segnest. Und Gott segnet ihn. Aber Jakob ging aus dieser Konfrontation über die Furt mit einer hinkenden Hüfte hervor. Das ist der berühmte Gotteskampf, dem wir Menschen uns irgendwann stellen müssen. Sie haben das mutig für sich getan. Die „hinkende Hüfte“, die Verletzung, bleibt. Sie kennen das, aber damit haben Sie gelernt zu leben.
Detlef Korczak
Ja. Aus ganz unterschiedlichen Gründen hat jeder sein Päckchen oder sein Paket zu tragen. Wenn man das Bewusstsein darum hat, kann man es auch annehmen, dann kann man auch zu sich stehen und sagen: So wie es ist, ist es gut. Aber das hat bei mir 30 Jahre gedauert. Das braucht seine Zeit.
Hans Mörtter
Ihren zweiten Schritt halte ich für eine Wahnsinnsaktion. Ihre Mutter ist zwar verhältnismäßig früh gestorben, aber Sie haben Ihrer Mutter posthum vergeben. Das ist wahrscheinlich eine Herkulesaufgabe gewesen?
Detlef Korczak
Ja, das war es. Ich hatte zu Lebzeiten meiner Mutter nie die Kraft, mich mit ihr auseinander zu setzen. Sie war eine sehr dominante Person. Ich habe dann immer gedacht: Ach, lass mal, das hat noch ein Jahr Zeit, hat noch ein paar Jahre Zeit, dann bist du irgendwann stark und dann kannst du dich auseinandersetzen. Wie das Leben so spielt, sie geht ins Bett und wacht nicht mehr auf und ist tot. Da war sie 67 und ich gerade so in der Phase des inneren Aufbruchs und ich dachte: Da hat – ich sage das jetzt mal so, wie ich es gedacht habe –, da hat das Aas mir das auch noch angetan, einfach abzuhauen, bevor ich mich mit ihr auseinandersetzen konnte! Ja, es waren zehn Jahre Kampf, teilweise auf dem Friedhof, am Grab. Manchmal kamen Friedhofsbesucher, die zu einem anderen Grab gingen und haben sich bestimmt gewundert: Was macht der da, ist der Grabräuber oder Grabschänder oder so? Da habe ich sehr, sehr viel Wut ausleben können und das ebbte ab. Eines Tages stand ich an dem Grab und habe gesagt: Mutter, wenn du heute da wärst, ich hätte noch viel mit dir zu reden. Als dieses Gefühl so in mir hochkam, habe ich gedacht, jetzt wird es langsam gut. Du weißt, sie wird nicht mehr wiederkommen, du weißt, du wirst nicht mehr mit ihr reden, aber du kriegst im Inneren so das Gefühl wie so ein stiller See. Es ist noch da, aber es ist keiner mehr da, der Steine in den See wirft. Es gibt keine Kreise mehr, es ist ruhig. Es gibt sogar zwei, drei Sachen, die ich ganz witzig an ihr finde, aber auch das hat 30 Jahre gedauert, bis ich etwas an ihr gesehen habe, das ich gut fand. Das andere war immer viel größer und viel stärker. Aber es hat langsam in den Jahren einen Ausgleich gefunden und es war auch ein Stück Versöhnung mit mir selbst.
Hans Mörtter
Sie konnten am Ende Ihre Mutter so sehen, wie sie war, ohne Groll.
Detlef Korczak
Ohne Groll.
Hans Mörtter
Sie haben es damit zu Ihrer Geschichte gemacht.
Detlef Korczak
Es ist meine Geschichte, ja.
Hans Mörtter
Das ist sehr jesuanisch. Daraus ist eine neue Zukunft für Sie entstanden.
Detlef Korczak
Ja. Ich glaube, das ist die einzige Chance, dass neue Zukunft entsteht.
Hans Mörtter
Der dritte Schritt war für Sie der entscheidende: Sie nennen das die innere Versöhnung und die Beziehungsklärung zu Ihrer Frau.
Detlef Korczak
Die Selbsttherapieversuche waren dann ein ganz neuer Weg, der meine Frau und mich in eine gemeinsame Arbeit als Therapeuten hineingeführt hat. Da war plötzlich ein ganz anderes Gefühl von Liebe da. Ich war immer der Meinung, ich hätte meine Frau immer geliebt und mich einfach gefreut, einen Menschen zu haben, der mich so nehmen konnte, wie ich war. Dann hatten wir Silberhochzeit und sie hat mich angeguckt und gesagt: „Ich glaube, langsam liebe ich dich richtig.“ Da habe ich sie angeguckt und gefragt: „Was war denn das vorher?“ und sie meinte: „Warum fragst du mich denn, du weißt doch, was vorher war. Wir brauchten uns, wir nährten uns, wir waren uns immer nahe, aber so das Gefühl, das ist wirklich Liebe, uneingeschränkt Liebe, ich kann den anderen so nehmen, wie er ist, ich kann ihn lassen, ich kann ihn freilassen, ich kann ihm seinen Raum lassen, das ist es, was jetzt ist.“ Das war wie eine Wiedergeburt. Ich fand das so was von umwerfend. Seit 15 Jahren arbeiten wir nun jeden Tag zusammen und freuen uns jeden Tag darauf. Meine Frau hat letztens mal in einer Gruppe gesagt: „Wenn ich manchmal morgens wach bin, dann weiß ich noch gar nicht, ob ich den da liebe. Aber wenn ich ihn so angucke, dann liebe ich ihn wirklich.“ Das sind die Geschenke, die mir so erwachsen sind. Das ist das Schöne, wenn man manchmal in einem unbeobachteten Moment zu dem Menschen sieht und spürt, was da im Herzen passiert. Dann ist man bei sich und auch bei dem anderen, etwas Gemeinsames, das da schwingt.
Hans Mörtter
Das hört sich gut an. Ich kenne Beziehungen, die ohne diese Belastungsform kaputt gegangen sind. Es gibt dieses schöne Wörtchen Treue, das erzähle ich immer bei unseren Hochzeiten hier in der Lutherkirche, das heißt: "chäsäd", also, ich gelobe, dir treu zu sein in guten und in bösen Tagen, in Krankheit und Gesundheit. Diese bösen Tage sind ja auch auf Ihre Frau übergeschwappt, haben sie auch umfangen. Chäsäd heißt übersetzt wirklich Treue, als ein Gottesprädikat, Gottes Treue zum Leben, zum Leben um uns herum und zu den Menschen und zu sich selbst. In Brüchen, aber das funktioniert. Das hebräische Wort hat wie eine Medaille zwei Seiten, auf der einen Seite steht Treue und auf der anderen Seite steht Gnade untrennbar miteinander verbunden. Sie und Ihre Frau haben beides erlebt und gelebt.
Detlef Korczak
Wenn wir uns den Freiraum, uns zu entwickeln, nicht gegeben hätte, hätten wir nicht zusammenbleiben können. Es waren ganz viele unterschiedliche Entwicklungsschritte nötig. Sicherlich bei beiden aus ganz unterschiedlichen Gründen, aber sie sind immer zu einem Zeitpunkt gekommen, wo sie uns einen Schritt weitergeführt haben, nie zu einem Zeitpunkt, wo sie uns getrennt haben.