Unser Sohn Severin wird im nächsten Monat 28 Jahre alt und gehört seit ziemlich genau 26 Jahren zur Lutherkirche. Hier wurde er am Martinsabend getauft – zusammen mit unserer ältesten Tochter Stella und hier wurde er vor 13 Jahren konfirmiert. Severin ist das, was man geistig behindert nennt, das heißt, er kann nicht so gut abstrakt denken, und hat beispielsweise nicht gelernt, zu rechnen, lesen und zu schreiben.
Ich will Euch heute nicht davon berichten, was er nicht kann, auch nicht davon, was er kann, denn das ist in der Tat eine Menge. Alida (Prädikantin Alida Pisu) und Anna (Pfarrerin Anna Quaas) haben mich gefragt, welche Erfahrungen uns das Leben mit Severin gebracht hat. Im Gespräch mit ihnen habe ich das so zusammengefasst: „Es ist nicht schön, ein behindertes Kind zu bekommen, aber es ist schön, eines zu haben.“
Warum es nicht schön ist, ein behindertes Kind zu bekommen, kann sich sicher jeder vorstellen. Ich habe einen schwarzen Berg vor mir gesehen, als ich von Ärzten die Diagnose hörte. Was würde mit uns geschehen? Würden wir jetzt Zeit unseres Lebens mit einem infantil erscheinenden Sohn an der Hand durch die Straßen marschieren müssen? Müsste sich jetzt alles in der Familie um ihn drehen? Würde Severin nie sprechen lernen, immer nur auf Hilfe angewiesen sein? Und: was würden die anderen denken, die kluge, erfolgreiche Kinder haben? Mir war es peinlich, einen geistig behinderten Sohn zu haben und ich hatte – aus heutiger Sicht – irrationale Ängste. Mein Mann ging mit der Eröffnung, die uns ungefähr zu Severins zweiten Geburtstag gemacht wurde, offensiver um. Er war zunächst einmal wütend, dass eine Amtsärztin uns die Diagnose, die wir nicht hatten wahrnehmen wollen, schonungslos an den Kopf knallte und dachte dann: „Denen zeigen wir es“….
Die Diagnose in ihr Gegenteil verkehren, konnten wir nicht, aber wir konnten versuchen zu zeigen, dass vieles geht, auch wenn man geistig behindert ist oder in der Familie mit einem geistig behinderten Kind lebt. Und jetzt beginnt der Teil, den ich damit überschreiben möchte, dass es schön ist, ein behindertes Kind zu haben.
Schön war es, dass wir sehr viele Menschen trafen, die ihn professionell und liebevoll förderten. Schön war es, dass wir für Severin in Bonn eine Waldorfschule fanden, die auf „seelepflegebedürftige Kinder“ spezialisiert war und uns ein wunderbares tragfähiges Netzwerk bot. Heute lebt Severin in einer anthroposophischen Lebensgemeinschaft im Siegkreis, dem Eichhof, und arbeitet dort als Töpfer. Außerdem ist er Schauspieler, Haussprecher, im Chor, im Männerkreis, im Kunstkurs, in der Wandergruppe – sein Leben im Eichhof scheint fast nur aus schönen Ereignissen zu bestehen, die er wie selbstverständlich genießt. Severin hat keinen Selbstzweifel, er mag sich und mag andere Menschen – und dass die ihn auch mögen, stellt er nie in Frage. Von seiner Unbefangenheit haben wir alle – seine Eltern und seine drei Geschwister – eine Menge gelernt. Gelernt haben wir auch von seiner absoluten Zuverlässigkeit und „Geordnetheit“, er vergisst nie einen Termin, den er hat und hat beispielsweise noch nie Handschuhe oder ähnliches verloren, was bei unseren anderen Kindern (und uns) an der Tagesordnung ist. Ein Leben in festen Bahnen ist für ihn ein Geländer, das ihn hält und vor Überforderung schützt. Er weiß, was ihm gut tut.
Ich möchte noch kurz erzählen, wie viel ihm und uns hierbei die Lutherkirche bedeutet. Wie gesagt, hier wurde er getauft, hier ging und geht er gerne zu Gottesdiensten, hier war er in einer Kindergruppe, die damals von Tom Koch geleitet wurde. Seine Konfizeit war für uns ideal, denn die Gemeinde hatte ihm eine Konfibegleiterin zur Seite gestellt, die ihn während des Unterrichtes unterstützte und auch den anderen Jugendlichen half, ihn besser zu verstehen und einzubeziehen.
Mit Severin den Gottesdienst zu besuchen heißt, sich auf Überraschungen gefasst machen zu müssen. Auch wenn er, bedingt durch sein Leben auf dem Eichhof, nicht mehr allzu oft am Sonntagmorgen die Gelegenheit dazu hat, am Gemeindegottesdienst teilzunehmen, freut er sich immer, wenn wir leider viel zu selten um 11:00 Uhr in Bayenthal aufs Fahrrad steigen und zur Lutherkirche fahren. Am liebsten dann, wenn Hans (Pfarrer Hans Mörtter) den Gottesdienst hält, denn ihn kennt er am längsten und mit ihm eröffnet er immer gerne und lautstark einen Dialog. Gerne spricht er auch Thomas (Kantor Thomas Frerichs) direkt an – für ihn ist er der Thomas Musikus. Beide gehen super mit Severin um und wir freuen uns, dass er auch von den Gemeindemitgliedern keine vorwurfsvollen oder verständnislosen Blicke erhält.
Mein Fazit: wir haben Glück gehabt. Glück, dass unser Sohn trotz seiner zweifellosen Beeinträchtigung in einer Umgebung hat aufwachsen können, die ihm eine Entfaltung auf seine ganz eigene Art erlaubte. Dafür sind wir dankbar – ich denke, Severin hat seinen ganz eigenen Schutzengel, den Gott für ihn ausgesandt hat.