Frage
Wenn man den Schmerz über eine Verletzung nicht zulassen kann, wirkt die im Unterbewusstsein trotzdem weiter.
Curt Hondrich
Wenn ich in mir etwas nicht zulassen darf, weil es aus irgendeinem Grund tabuisiert oder verboten ist oder mich gefährdet, bin ich immer in der Gefahr, andere zu bekämpfen, die genau das tun, was ich mir selbst verbiete. Ich projiziere meine eigenen Verbote auf andere. Denn was ich nicht tun darf, soll auch kein anderer dürfen.
Frage
Selbst bei einem so banalen Beispiel, wie „Rasen betreten verboten“. Sobald jemand auf den Rasen geht...
Curt Hondrich
... jagt man den sofort runter. So funktioniert das. Und wenn das, was bei den Erwachsenen in ihrem Inneren verschlossen bleiben muss, weil sie sich davor fürchten oder damit nicht fertig werden, wenn das ohne Erklärungen, also sprachlos auf ihr Kind übertragen und dort sozusagen als Containment eingebettet wurde, dann hat man es dem Kind „introjiziert“. Ein Introjekt ist ein in sich abgeschlossenes Muster, das in das Kind implantiert worden ist. Dann gibt es da etwas, was in diesem Kind vorhanden ist und in ihm wirkt, das das Kind aber nicht versteht. So funktioniert eine Trauma-Entlastung, wenn die Eltern ihre Traumata nicht bewältigt und nicht therapiert haben. Diese Traumata werden in Form von Introjekten in den Kindern platziert.
Frage
So werden unbearbeitete Traumata von Generation zu Generation weitergegeben.
Curt Hondrich
Genau. So funktioniert transgenerationale Weitergabe. Die Kinder tragen die Lasten ihrer Eltern, die sie nicht verstehen, aber tragen.
Frage
Entweder sie verteidigen den Rasen oder sie zerstören ihn.
Curt Hondrich
Vereinfacht gesagt ist das so. Was die 68-er Generation gemacht hat und vor allem die RAF, war einerseits eine Befreiung, weil ein öffentlicher Diskurs über das Dritte Reich in Gang gesetzt wurde, gleichzeitig waren aber die damit verbundenen Aggressionen sehr wohl begründet in den Introjekten dieser jungen Menschen. Das spielt Beides eine Rolle. Da kommt etwas nach oben und wird rationalisiert, damit man es packen kann. Es wird also nach außen in die Gesellschaft getragen, doch im Bauch findet sozusagen noch ein ganz anderer Kampf statt. Das ist der Kampf gegen die Eltern auf der einen und gegen die von ihnen ererbten Introjekte auf der anderen Seite. Dieser innere Kampf wird aber nicht ausgetragen. Rudi Dutschke, der bekannteste Wortführer der 68-er Studentenbewegung, war zu Hause lammfromm.
Frage
Klar. Die eigenen Eltern werden unter allen Umständen geschützt.
Curt Hondrich
Genau. Die Kinder hatten während des Krieges entweder keine Eltern, weil sie evakuiert waren, oder nur inkomplette Familien. Bei denen, die Glück hatten, kam nach dem Krieg der Vater wieder nach Hause, da war die Familie wieder komplett.
Frage
Der Vater war aber nicht mehr der selbe.
Curt Hondrich
Die Familie musste sich auf diesen veränderten Vater einstellen – und der Vater auf die veränderte, selbständig gewordene Mutter. Jetzt findet zwar eine andere Familienkonstellation statt, aber für das Kind ist das familiäre Dreieck, die Triangulierung, die das Kind braucht, wieder komplett. Und es wird einen Teufel tun, das in Frage zu stellen.
Frage
Wie der lammfromme Rudi Dutschke.
Curt Hondrich
Rudi Dutschke geht auf die Straße, kämpft öffentlich gegen die Elterngeneration und zu Hause ist er der brave Sohn. Erst als die Eltern ihm Vorwürfe wegen seiner Aktionen machten und sie ablehnen, geht er nicht mehr nach Hause. Auch die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin ist von ihrem Vater sozusagen gedeckt worden. Sie hat stellvertretend für ihren Vater gehandelt. Das könnte man ein klassisches Introjekt nennen.
Frage
Gudrun Ensslins Vater war Pfarrer.
Curt Hondrich
Der „fromme“ Pfarrer durfte und konnte nicht handeln, wie er vielleicht gerne gewollt hätte, nämlich seine ganze Wut und seinen Hass rauslassen. Er hat alles seiner Tochter introjiziert. Die hat dann gehandelt. Er hat dieses Handeln mit Sympathie begleitet. Bis zu einem gewissen Punkt. Als ihr Protest dann umkippte in pure Gewalt, konnte er ihr nicht mehr folgen. Nun verurteilte er, was er sich selbst verbieten musste.
Frage
Aber man kann dem Vater von Gudrun Ensslin nicht vorwerfen, dass er das bewusst gemacht hat.
Curt Hondrich
Auf gar keinen Fall. Niemand macht das bewusst. Man kann den Eltern keinen Vorwurf machen. Sie sind vermutlich selbst mit Introjekten von ihren Eltern ausgestattet. Introjektionen, Abspaltungen, Verdrängungen, das sind Schutzmechanismen der Seele, um überleben zu können. Es ist gut, dass wir diese Mechanismen haben.
Frage
So werden die Traumatisierungen oft unbemerkt an die Generation der Kriegsenkel weitergegeben, das sind die Kinder der Kriegskinder.
Curt Hondrich
Wenn es sich um ein klassisches Introjekt handelt, das von den Eltern oder Großeltern platziert worden ist, dann ist das ein dunkler Fleck, den das Kind nicht begreifen kann. Ich spüre da etwas in mir, ich verstehe es aber nicht und deswegen habe ich Angst, daran zu rühren. Ich weiß ja nicht, was dann passiert. Also versuche ich das Fremde zu unterdrücken. Es bleibt aber und bestimmt unterbewusst mein Handeln weiter. Ich kann es ja nicht auslöschen. Ich habe bei einer Tagung neulich neben einer Psychoanalytikerin gesessen, die meinte: „Rühren Sie da nicht dran, dann passiert auch nichts“. Da bin ich in die Luft gegangen: Natürlich passiert etwas, laufend passiert etwas, es bestimmt unser Handeln. Wenn wir es nicht anpacken, passiert es immer weiter. Dass wir immer noch Krieg als Mittel für Konfliktlösungen empfinden und tatsächlich auch praktizieren, hat damit zu tun, dass wir nicht gelernt haben, mit Krieg fertig zu werden, weil er in uns ist. Von Generation zu Generation sind die Verletzungen, die durch die Kriege entstanden sind, weitergegeben worden. Und Gewalt als Mittel zum Zweck ist uns darum sehr vertraut.
Frage
Sie hatten uns damals ziemlich aufgewühlt, als Sie uns 2010 in unserem Themengottesdienst zur vergessenen Generation erklärten, dass die transgenerationale Weitergabe von Traumata in Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) ohne Unterbrechung so geschehen ist.
Curt Hondrich
Ja, das ist richtig. Jede Generation ist seitdem in irgendeiner Weise durch Krieg betroffen gewesen und hat diese schlimmen Erfahrungen oft unbearbeitet weitergegeben.
Frage
Wir hatten im Nachkriegsdeutschland rund 60 Jahre keinen Krieg. Kann es sein, dass die Generation der Kriegsenkel dadurch eine gute Chance hat, diesen Jahrhunderte währenden Kreislauf zu durchbrechen?
Curt Hondrich
Sicher haben wir eine Chance. Nicht politisch. Politisch haben wir einen Schritt zurück gemacht. Krieg ist für uns wieder ein Mittel der Politik geworden, seit das Gleichgewicht des Schreckens zwischen Ost und West verschwunden ist. Dabei ist die gleiche Kapazität an atomarer Sprengkraft immer noch da.
Frage
Wir haben seitdem einen neuen Feind, den Islam.
Curt Hondrich
Ja, der Islam ist jetzt der Feind, der den US-Amerikanern und ihren Verbündeten im Osten verloren gegangen ist. Genau so. Insofern stehen die politischen Chancen schlecht. Gesellschaftlich sehe ich aber eine Chance. Nachdem die Kriegskinder-Generation 60 Jahre lang funktioniert hat und jetzt im Ruhestand ist, gibt es nichts mehr zu funktionieren. Nun begegnen sich auf einmal der alte Mensch und das verletzte Kind in ihm. Die Verletzungen brechen jetzt auf, weil im Alter die sogenannte Ich-Kontrolle nachlässt. Ich kann also nicht mehr so gut kontrollieren, was da in mir an Emotionen frei wird, und die Kraft, die Emotionen einfach weg zu drücken, lässt nach. Was dann oft hochsteigt, sind Erinnerungsbilder aus der Kindheit. Da beginnt bei vielen ein großes Erschrecken.