Curt Hondrich
Es ist inzwischen historisch gesichert, dass das bei allen beteiligten Nationen in Europa so war. Die Deutschen haben dann den Entschluss gefasst: Jetzt machen wir los, vielleicht verschafft uns das einen Vorteil. Die Deutschen haben dann diesen Krieg begonnen. Das ist unzweifelhaft. Aber die Idee der Kriegsbereitschaft und der Unausweichlichkeit dieses Krieges, die war in allen Köpfen und in allen Ländern. Das war in einer Zeit, in der es Reichtum gab. Es lag nicht daran, dass irgendwo Mangel herrschte und aus wirtschaftlichen Gründen ein Krieg herbeigeführt werden sollte, sondern die Nationen waren gut saturiert. Es gab keinen existentiellen Grund dafür. Es war ein Krieg, der auf eine merkwürdige Weise unausweichlich war. Wenn man nun diese traumatische Traditionskette sieht, die es bei uns gegeben hat, und weiß, dass Traumata vor allem ein Anlass sind, sich zu schämen, versteht man, dass zum Beispiel vergewaltigte Frauen meist nicht damit an die Öffentlichkeit gehen, weil sie sich schämen. Dieser Schamvorbehalt, verbunden mit dem Trauma, macht es so schwierig, die Geschichte öffentlich zu verhandeln. Über Scham spricht man nicht. Über Scham geht man hinweg und es gibt sehr viele Strategien, mit Scham umzugehen. Eine Strategie ist, nach außen zu gehen und eine Dominanz anderen gegenüber zu zeigen. Das hat ganz stringent nach dem Ersten Weltkrieg begonnen. Da war die Beschämung der Deutschen ganz groß, denn sie hatten auf das große Kaiserreich gesetzt und auf dessen Wohlstand, und nach dem Krieg brach alles zusammen, worauf sie gehofft hatten. Das betraf vor allem die jungen Männer mit 16, 17 Jahren, die mit fliegenden Fahnen in den Krieg marschiert sind. Das war eine vaterländische Tat und kein Mensch hat daran gedacht, dass ihm was passieren könnte, und alle hielten sich für unverwundbar. Sie sind in diesen Krieg gegangen und gestorben wie die elenden Ratten. Die sind abgeknallt worden, vergiftet worden, bombardiert worden. Es hat eine Feindpropaganda gegeben, wie es sie vorher noch nie gegeben hatte, in der der Feind, der Gegner entmenschlicht und deswegen zum beliebigen Objekt wurde. All das hat sie zerstört. Diese Deutschen kommen geschlagen aus diesem Krieg zurück, hungrig, verwundet, verletzt und vor allen Dingen gedemütigt. Danach wurde der Versailler Vertrag beschlossen, der dem Ganzen noch einmal politisch eins draufsetzte und die Deutschen demütigte. Die durften den Vertrag ja nicht mal mit aushandeln, sie durften nur anschließend unterschreiben. Das führte dazu, dass dieses Land gekränkt war bis in die Knochen.
Hans Mörtter
Krieg war schon immer eine unglaubliche Abschlachterei. Die Menschen haben erlebt, dass sie keine Individuen mehr sind, sondern nur eine Fleischmasse. Sie wurden immer neu da hinein getrieben und haben ihre Identität verloren. Diejenigen, die zurück kamen, haben dann ihre Kinder erzogen.
Curt Hondrich
Genau im Sinne von „Ein Junge weint nicht“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“. Das war die Pädagogik der Johanna Haarer, die damals das Buch geschrieben hat: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, das für eine ganze Generation von Müttern die Bibel war, nach der sie lebten. Die Kinder wurden so erzogen, dass die möglichst früh von der Mutter getrennt wurden, dass sie nur nach einem bestimmtem Zeitplan zur Mutter durften und die Mahlzeiten bekamen, und wenn das Kind schrie, dann ließ man es eben schreien. „Das stärkt die Lungen und macht das Kind nur stärker.“ Wir wissen natürlich heute, dass diese Art von Pädagogik genau das Gegenteil davon erreicht, starke und unabhängige Persönlichkeiten zu erziehen. Es werden schwache Menschen erzogen, die manipulierbar sind. Das ist auch ein Teil der Versuchungsgeschichte des deutschen Volkes. Die erste Versuchung war das Kaiserreich mit dem Bild des Deutschen, der den anderen überlegen ist, weil er der Tüchtigere war, und die zweite Versuchung war die durch die Nationalsozialisten. Deren Herrenmenschentum schien die Befreiung aus der Scham und die Befreiung aus dem Trauma.
Hans Mörtter
Die brauchten andere, die sie beschämen konnten. In dem Fall waren das die Juden und die so genannten minderwertigen Rassen.
Curt Hondrich
Insofern war das ein in sich schlüssiger Vorgang, der dann mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Niederlage Deutschlands – zum Glück der Niederlage Deutschland - einbrach. Danach gab es wieder die Beschämung. Und was ist gemacht worden? Es ist geschehen, was bei Scham eben gemacht wird, es wurde geschwiegen, es wurde nichts erzählt. Die Kriegsgeneration erzählte nichts, die Väter, die nach Hause kamen, waren auch zum großen Teil traumatisiert, entweder durch aktive Geschichten, die sie im Krieg als Täter gemacht hatten, oder aber durch die Schrecken, die sie passiv erlebt hatten. In jedem Fall waren sie massiv traumatisiert und haben nichts erzählt. Die Kriegskinder konnten auch nichts erzählen, weil sie von den Eltern nichts über den Krieg erfuhren, und ihre eigenen traumatischen Erfahrungen blieben in ihnen verschlossen und wurden der nächsten Generation verbal nicht weiter gegeben.
Hans Mörtter
Dieses „Stell dich nicht so an“ höre ich bis heute. Den Menschen geht es schlecht, ich rede mit denen und habe eine Idee, wie sie aus dieser Situation heraus kommen, dann heißt es ganz schnell. Nee, nee ist schon gut, anderen geht es viel schlimmer. Ein tödlicher Satz: Anderen geht es viel schlimmer.
Curt Hondrich
Das Schlimme ist, dass das durch so genannte Introjekte weiter-gegeben wird. Womit ich als Elternteil nicht fertig werde, das gebe ich unbeabsichtigt weiter an mein Kind und implantiere das so zu sagen in die Seele meines Kindes, das damit gar nichts anfangen kann. Es erlebt da etwas, was in ihm ist, das es sich aber nicht erklären kann, weil es das gar nicht selbst erlebt hat. Es ist also das fremde Erleben, das dieses Kind in sich trägt und mit dieser implantierten Verwundung der Eltern weiterleben muss. Das ist die Art und Weise, wie Traumata weitergegeben werden, ohne dass darüber gesprochen wird. Nonverbal. Diese Introjekte sind ein Vorgang, der in der Psychoanalyse sehr bekannt und inzwischen auch sehr gut beforscht ist. Das ist die Art und Weise, wie wir alle in der Kette der Traumatisierungen und der Kette der Beschämungen die Tradition forttragen, indem wir das an unsere Kinder weitergeben, was bei uns hängen geblieben ist und mit dem wir nicht fertig werden. Die Sache ist, dass in dem Moment, in dem wir darüber reden, und das ist jetzt der Fall, dann kann es öffentlich und auch in den Familien diskutiert werden.
Nach dem Krieg hatten wir die Adenauer-Gesellschaft, die ich noch sehr gut erlebt habe. Das war eine sehr restriktive Gesellschaft, die sich im Grunde genommen in ihrer Qualität – abgesehen von der Ideologie natürlich – aber in ihrer gesellschaftlichen Qualität vom Dritten Reich wenig unterschied. Es war der gleiche Commande, es war der gleiche harte Gehorsamsstil. Es war die Unfreiheit, die für den Einzelnen da war, weil er sich an die Regeln zu halten hatte. Ein Satz, der mir nie aus dem Kopf geht, der überall stand, war „Rasen betreten verboten“. (Amüsierte Unruhe in der Gemeinde). So war die Gesellschaft damals. Diese Gesellschaft war so geworden, weil sie die Ärmel hochkrempelte und wieder aufbaute, das muss man auch sehen, und die Kriegskindergeneration nahm so zu sagen die Stafette der Eltern in die Hand und konsolidierte das, was die Eltern wieder aufgebaut hatten und die junge Generation von heute hat mit einer fertigen Welt umzugehen, von der sie gar nicht weiß, was denn hier noch zu tun ist. Vieles von der Gewalt, die wir heute erleben, hat genau damit zu tun, dass im Grunde genommen nichts mehr aufzubauen, nichts mehr zu machen ist. Da ist nichts mehr zu konstruieren. Aber man kann ja destruieren, um wieder aufzubauen. Diese destruktiven Anteile, die heute vielfach beklagt werden, haben wahrscheinlich da ihren Grund.
Die 1968-er Generation hat aus dieser Scham heraus den Aufbruch in die Schamlosigkeit betrieben. Die Kommune 1 war schamlos. Da wurde öffentlich gevögelt, das wurde zur Schau gestellt, man protzte auch damit, dass man das tat. Die freie Liebe wurde proklamiert. Es wurden Grenzen aller Art eingerissen, auch politische. Das war die Reaktion einer Jugend, die daran erstickte, die das nicht mehr aushielt. Diese Begrenzung, die durch die Scham entstanden und nicht aussprechbar war, die hielten sie nicht mehr aus und sind ins andere Extrem verfallen. Dann kam die antiautoritäre Erziehung, von der wir wissen, dass sie auch nicht das Gelbe vom Ei war, aber es war der Gegenschlag und der war offenbar nötig, um zu einer gewissen Befreiung zu gelangen. Aber über die Traumata wurde immer noch nicht gesprochen. Die Elterngeneration wurde angeklagt. Rudi Dutschke stand auf der Straße und klagte an, zu Hause war er ein ganz lieber Sohn. Er hat keinen Streit mit den Eltern provoziert. Erst als die Eltern kritisierten, was er tat, hat er das Elternhaus gemieden. Er ist nicht hin und hat den Streit zu Hause ausgefochten. Er ist nur weg geblieben und hat draußen die Elterngeneration als Abstraktum angegriffen, aber nicht die eigenen. Die Kinder, die traumatisiert sind und die nach dem Krieg zerstörte Familien vorfanden, und Kinder, die im Dreiecksverhältnis zwischen dem Elternpaar und sich selbst leben, sind daran interessiert, dass dieses Dreieck wieder zustande kommt. In dem Augenblick, wo ich dazwischen gehe und die Eltern kritisiere, zerstöre ich diese Triangulierung. Das genau durfte nicht passieren. Rudi Dutschke ist ein klassisches Beispiel dafür, wie das nicht passiert ist. Aber die Generation wurde angeklagt und befragt: Was habt ihr getan? Und das war wohl richtig so.
Hans Mörtter
Umgekehrt haben dann deren Kinder irgendwann die Nase wieder so voll, dass sie konservativ werden, also wiederum das Gegenteil. Wie fremdbestimmt wir uns im Grunde verhalten. Das entspricht doch gar nicht dem, wie wir angelegt sind. Danach zu fragen, kommen wir gar nicht mehr, weil ständig re-agiert wird, verteidigt wird oder angegriffen. Oder wiederholt wird. Unter anderem eben der Krieg. Der Mechanismus des Krieges wiederholt sich permanent, so lange wir dieses Denken nicht brechen, so lange wir nicht weiter darüber reden. Ich habe kürzlich eine Frau beerdigt, deren Tochter sehr darunter gelitten hat, dass sie ihre Mutter nie richtig kennen lernen konnte. Sie weiß bis heute nicht, was für ein Mensch ihre Mutter war, weil sie nicht an sie heran kam. Warum war sie so, warum hat sie uns nicht umarmen können? Wieso gab es keine Zärtlichkeit? Und wer bin ich? Bin ich überhaupt jemand? Dieses direkte Gegenüber war nie da, es war immer eine funktionale Beziehung. Jetzt bekam sie Angst, dass sie das nicht mehr klären kann. Aber wir kriegen das geklärt. Der erste Schritt war bei ihr auch zu sehen, wie verletzt ihre Mutter war. Schade, dass man das erst beim Sterben oder beim Tod feststellt und nicht vorher schon ansetzen kann.