Hans Mörtter
In unserem Mittwochskreis für Senioren und Seniorinnen erzählte vor ein paar Tagen eine Dame noch mal von ihrer Flucht aus Ostpreußen. Viele Babys haben den harten Winter nicht überstanden und mussten am Wegrand abgelegt werden. Sie konnten nicht einmal beerdigt werden, weil die Erde so hart gefroren war. Die Dame kämpfte dabei mit Tränen. Wir beschäftigen uns hier auch mit Kriegskindern, Kriegsenkeln und Kriegstraumatisierung – in der Bibel heißt es, der Schrecken wirkt nach bis ins 7. Glied, bis in die 7. Generation. So lange werden wir in unserem Verhalten, in unseren Gefühlen, in unseren Verhinderungen geprägt. Diese Geschichte ist wie eins deiner Bilder, das ist eine Erinnerung, die ist da, und dann weiß ich ganz genau, Krieg kann nie im Leben eine Möglichkeit sein, ich darf mich nie verführen lassen, den sogenannten gerechten Krieg zu befürworten – das war ja im Kosovo so, wo die Grünen umgekippt sind –, und es natürlich keinen gerechten Krieg gab.
Christoph Bangert
Ja, ich sehe das genau so. Manchmal werde ich gefragt: ja, sind Sie denn Pazifist. Dann sage ich: na ja, also ich bin genauso wenig Kriegsfotograf wie ich Pazifist bin. Wenn man selbst solche Situationen erlebt hat, dann merkt man auch, wie kompliziert das ist. Ich stimme mit dir völlig überein, wenn du sagst, man müsste den Krieg um jeden Preis verhindern. Wir können keine Kriege führen, und natürlich werden wir immer Kriege führen, aber unsere Aufgabe ist es, informiert zu sein, diese Themen präsent zu haben und uns an das Geschehene zu erinnern, das in unser tägliches Leben und unsere jetzigen Entscheidungen mit einzuarbeiten. Es gibt natürlich keine gerechten Kriege, allerdings war ich in Situationen, wo bewaffnete Menschen Kriege verhindert haben. Das macht es natürlich sehr kompliziert, wo ist man dann da Pazifist. Ich stimme völlig mit dir überein, sage aber, dass es kompliziert ist. Man kann nicht sagen, Krieg ist jetzt immer schlecht und alle Waffen sollten wir vergraben – so einfach ist es leider nicht.
Hans Mörtter
Es ist nicht einfach, und DEN Pazifisten, den gibt es, glaube ich, auch nicht. Das wäre gelogen.
Christoph Bangert
Genau, ja. Wie den Kriegsfotografen.
Hans Mörtter
Im Buch steht: „I’m a political person.“ Du wehrst dich dagegen, dass es diese Medienzensur gibt, bestimmte Bilder nicht zu zeigen, weil sie angeblich zu grausam sind. Nicht angeblich, sie sind zu grausam. „Tief in mir drin schreie ich aus meiner vollen Lunge heraus: du kannst nicht meine Bilder ansehen, okay, dann noch eine Nummer härter, du Softie-First-World-Winner!“
Christoph Bangert
Das muss ich jetzt ein bisschen erklären. Das hat mit der Wut zu tun, die man als Berichterstatter empfindet, der vor Ort ist und Bilder macht, die genau dokumentieren, was da passiert. Ich schicke sie zur Redaktion, und sie werden nicht veröffentlicht. Das ist unglaublich frustrierend. Ist natürlich verständlich, denn eine Tageszeitung kann auch von Kindern angeschaut werden. Da muss man vorsichtig sein, das ist ein Dilemma, aber man muss es diskutieren. Die Redaktion muss immer wieder entscheiden: was wollen wir zeigen, was wollen wir nicht zeigen. Meine Frustration ist dann natürlich sehr groß, ihr könnt euch noch nicht mal die Bilder ansehen, wobei es gleichzeitig Menschen gibt, die durchleben diese Kriege tatsächlich, das ist nicht fiktiv, es ist real, es passiert tatsächlich jetzt, gerade im Moment.
Hans Mörtter
Es ist kein Computerspiel, es ist nicht beliebig. Wir haben die Freiheit, wir können uns entscheiden, nein, wir wollen das nicht sehen, das ist nicht zumutbar, das können wir nicht ertragen. Nur die Menschen, die auf diesen Bildern, die in dieser Situation fotografiert sind, die müssen das jeden Tag, jetzt in diesem Augenblick ertragen.
Christoph Bangert
Genau, und wir meinen, es nicht zu schaffen, uns die Bilder anzusehen, wobei das ja nur Bilder sind, es ist ja nur ein Abbild. Es ist ja nur eine Interpretation des Geschehenen. Es ist ja eigentlich nichts. Aber noch nicht mal das muten wir uns zu. Man muss natürlich die Leute auch ein bisschen verstehen. Es ist nicht gut, die Leuten nur vor den Kopf zu stoßen. Deswegen versuche ich auch mit dem Buch, irgendwie die Kurve zu kriegen, z. B. mit dem Epilog über meinen Großvater. Der war überzeugter Nazi bis zu seinem Ende, und das ist ein kurzer Epilog. Er hat immer sehr positiv vom Krieg erzählt, genau das Gegenteil von dem, was du gerade gesagt hast, dieses sehr persönliche, schreckliche Erlebnis dieser Frau. Er hat immer nur positiv berichtet – es war also wie eine große Abenteuerfahrt nach Russland, und er hat tatsächlich von seinem Pferd erzählt, weil er auf einem Pferd geritten ist. Er hat sich selbst unheimlich belogen. Dieser Epilog, wo es um diesen Großvater geht, ist auch ein bisschen als Warnung zu verstehen, zu sagen, wenn wir uns selbst zensieren –
Hans Mörtter
Belügen auch.
Christoph Bangert
– belügen, ja, dann kann das auf einer persönlichen Ebene stattfinden, dann kann das aber auch auf einer gesellschaftlichen Ebene stattfinden, und wenn man das dann noch mit einer gewissen Ideologie, wie der Nazi-Ideologie, verbindet, kann das eine unheimlich gefährliche Sache werden.
Hans Mörtter
Du redest auch von „Wake up, you have to look“, und dann sind wir bei der Bedeutung der Bilder, der Notwendigkeit der Bilder, der Bedeutung, der Erinnerung.
Christoph Bangert
Ja, wir erinnern uns in stehenden Bildern, wir erinnern uns nicht in Filmsequenzen oder in Texten. Unsere Erinnerung funktioniert in stehenden Bildern. Daraus resultiert eine große Verantwortung, die wir als Bildermacher haben – wir dokumentieren nicht nur Ereignisse, wir erschaffen auch Erinnerungen in den Köpfen der Menschen, und ich denke, Kriege müssen genauso dokumentiert werden, wie alles andere auch. Leider sind Kriege etwas Alltägliches, was sehr banal ist, es passiert ständig, und wir müssen das dokumentieren, und was dann die Gesellschaft daraus macht, das ist nicht mehr so richtig in unserer Hand. Wir als Journalisten können natürlich nicht den Anspruch haben, dass wir die Kriege beenden können. Wir haben manchmal die Illusion, dass wir denken, Bilder können Kriege beenden – daran glaube ich nicht so richtig. Ich glaube, dass Menschen Kriege beenden können, und Menschen werden sehr stark durch Bilder beeinflusst und erinnern sich eben in Bildern. Da liegt eine große Kraft, aber meine Aufgabe ist nicht, den Krieg zu beenden, meine Aufgabe ist auch nicht, Leuten zu helfen, sondern meine Aufgabe ist nur, Dinge, die ich erlebe, zu dokumentieren und dann zu veröffentlichen.
Hans Mörtter
Stumpft man dabei nicht auch irgendwie ab?
Christoph Bangert
Nein, gerade nicht. Es ist eigentlich umgekehrt.
Hans Mörtter
Ich rede da von Nähe und Distanz – das wird in der Seelsorge-Ausbildung immer gesagt, nicht zu nah, das frisst dich auf, also entwickele Schutzmechanismen. So, ich bin jetzt zum hundertsten Mal im Einsatz und sehe Bilder, die ich schon oft gesehen habe, vergleichbare Bilder. Was ist mit deinen Gefühlen dabei? Du redest ja auch von der Gefahr der Abstumpfung.
Christoph Bangert
Ja, ich denke, man stumpft nicht ab, das geht gar nicht. Diese Erfahrungen, die sind so extrem – wer da abstumpfen würde, der wäre kein Mensch mehr. Das geht gar nicht. Man kann vielleicht so tun, als wäre man abgestumpft, aber das ist so extrem, das wird einen immer berühren, und muss auch einen berühren. Wenn man dort arbeiten will und keine Gefühle hätte, dann könnte man dort auch nicht arbeiten. Man ist ja immer erst Mensch und dann Journalist. Natürlich muss man da auch investieren. Eine professionelle Distanz gibt es eigentlich in meinem Beruf nicht und kann es auch nicht geben. Ich denke, in deinem Beruf ist das ähnlich.
Hans Mörtter
Ich habe mir hier noch mal diesen schönen Satz aufgeschrieben von Clausewitz, einem deutschen General aus dem vorletzten Jahrhundert, der aber zum Gesetz geworden ist bis heute: „Der Krieg ist eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln.“ Wie empfindest du diesen Satz angesichts dessen, was du alles erlebt und gesehen hast?
Christoph Bangert
Ja, ich kann dem eigentlich nur zustimmen. Das ist halt so. Krieg ist ein politisches Ereignis in den meisten Fällen und leider sehr banal. Ich denke, wir sollten auch den Krieg nicht zu sehr romantisieren, wir müssen den Krieg so sehen, wie er ist, er ist das Allerschrecklichste, was man sich überhaupt vorstellen kann oder eben auch nicht vorstellen kann, wenn man auf meine Generation schaut. Man sollte sich sehr an den Fakten und an den tatsächlichen Ereignissen orientieren, und dann sieht man eigentlich sehr schnell, wie schlimm das tatsächlich ist. Wenn man sich an dem nicht orientiert, was man so gesagt kriegt oder was die UN sagt oder irgendwelche Regierungen, sondern wenn man tatsächlich da hinschaut, was da tatsächlich geschieht.
Hans Mörtter
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland, inklusive der „Bild“-Zeitung, eine große Mehrheit der Deutschen, die sagten, nie wieder Krieg, nie wieder eine Armee. Adenauer als Bundeskanzler hat dann unter dem Zwang mit dem Westen – das war unter dem Diktat der USA – als Einstieg in den Kalten Krieg die Bundeswehr gegründet gegen die Mehrheit der Deutschen damals. Er ging gegen das eigene Volk vor und machte eine Militärpolitik. Ich finde es schon seltsam, dass das funktionieren konnte in einer Demokratie. Aber wenn ich mir die Politik heute anschaue, wundert es mich nicht mehr.
Christoph Bangert
Ja, genau dasselbe ist diese Woche in Japan passiert. Das Volk ist gegen eine Expansion der Möglichkeiten eines Militäreinsatzes japanischer Streitkräfte im Ausland. Es gibt also eine große japanische Armee, die durfte nie im Ausland eingesetzt werden, und das wurde jetzt geändert. Aber seit dieser Woche darf sie das, obwohl die Mehrheit der Japaner dagegen ist. Interessant, oder?
Hans Mörtter
Eine ähnliche Geschichte wie in Deutschland, nur dass wir uns schon lange daran gewöhnt haben und die Japaner es jetzt diskutieren müssen und sich damit auseinandersetzen. Wie fatal das wirkt, sieht man am Irakkrieg. Das war die Büchse der Pandora, die da geöffnet wurde, eine totale Destabilisierung der Region, ein fürchterliches Leid für Hunderttausende von Menschen, ohne dass man sieht, dass da irgendwo eine Perspektive ist. Oder?
Christoph Bangert
Ja, das ist ja das Gemeine an diesen Ereignissen, dass sie so lange dauern. Das sieht man an den Balkankriegen – das dauert eine Generation oder zwei, bis dann halbwegs wieder Ruhe einkehrt, aber gelöst werden diese Konflikte eigentlich nie. Das sind ja Bürgerkriege. Schiiten gegen Sunniten – was macht man da? Keine Ahnung, sie wohnen halt alle da. Und Nordirland – was macht man, das sind immer noch Protestanten und Katholiken, die wohnen immer noch da. Wenigstens bringen sie sich im Moment nicht um, das ist ja schon mal was, aber gelöst ist dieser Konflikt auch nicht. Aber so ist das, es braucht Zeit. Das ist das Gemeine, gerade wenn man mit Leuten spricht vor Ort, dann kann man natürlich als Ausländer nicht sagen: ja, das dauert jetzt zwei Generationen, da haben die Leute nichts von. Es braucht eine lange Zeit. Kein Krieg hält ewig – das ist vielleicht das einzige Positive an dem Ganzen. Es gibt keine Kriege, die für immer stattfinden.
Hans Mörtter
Ich habe hier ein Zitat von Edward Snowden – ich hoffe, dass er irgendwann die deutsche Staatsangehörigkeit bekommt. „We all have a limit of injustice, of incivility, of inhumanity in our daily life that we can kind of accept and ignore. We turn our eyes away from the beggar on the street. We also have a breaking point and when people find that, they act.“. Wir haben eine innere Grenze, das ist unser Ur-Menschsein, das ist unsere Matrix des Menschseins, und das sehen wir auch in den Bildern, und wenn wir sie sehen, sagen wir nein, hier ist die Grenze überschritten. Er sagt, wir haben eine Grenze, was die Ungerechtigkeit angeht, was die Unhöflichkeit angeht, was die Unmenschlichkeit angeht, in all dem, was wir täglich erleben, was wir akzeptieren oder ignorieren, und er sagt, wir wenden unsere Augen vom Bettler in der Straße ab, wir haben aber auch einen Bruchpunkt, einen Umbruchpunkt, und wenn wir diesen Punkt finden, dann handeln wir. Danke, Christoph.
Christoph Bangert
Vielen Dank!