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Ein ganz besonderes Geschenk des renommierten künstlers

Talk mit Hans Mörtter und dem Bildhauer Ulrich Rückriem über die Schenkung seiner Zeichnungen; Foto: Stefan Schmiedel

Die Freiheit des Ausdrucks und des Geistes

Er hatte schon mal Zeichnungen bei uns im Turm ausgestellt, aber er wollte nicht, dass wir das ankündigen. Wer Glück hatte und vorbei kam, konnte bei uns eine Zeit lang Werke von Ulrich Rückriem bewundern. Nun kam er zum Talkgottesdienst an die Lutherkirche, und niemand konnte vorhersagen, wie das laufen würde. Ulrich Rückriem hat sehr eigene Vorstellungen und die haben ihn zu einem der bedeutendsten zeitgenössischen Bildhauer gemacht. Man hat ihn in verschiedene Schubladen stecken wollen, wie „Prozesskünstler“ oder „Minimalist“, die sprengt er aber alle. 1938 in Düsseldorf geboren, absolvierte er zunächst eine Lehre zum Steinmetz, verlegte sich dann auf die Bildhauerei und hatte später Professuren an verschiedenen Hochschulen inne. Der 79jährige ist heute noch bekannt für die Steinquader, die er u. a. im Steinbruch Anröchte in Westfalen ausgesucht und bearbeitet hat. Obwohl er als Steinmetz in der Lage ist, den Blöcken jegliche Form zu verleihen, die ihm gerade einfällt, hat er sich die Steine sehr gut angeschaut und danach gearbeitet, was dem Ausgangsmaterial von Natur aus inne wohnt. Durch Spalten, Sägen, Schleifen, Polieren und Zusammensetzen gibt er ihnen eine neue Form. Oft sind dadurch geometrische Blöcke entstanden, bei denen die Bearbeitungsspuren und der Arbeitsprozess abzulesen sind, darunter Bohrlöcher, aber auch Spuren der Einwirkung des Wetters auf die oft draußen stehenden Skulpturen. Namen gibt er seinen Werken nicht, zumindest keine erklärenden. Der Bezug der Skulptur zu ihrem Standort ist für ihn ebenso wichtig wie die Skulptur selbst.

Ulrich Rückriem hat sich seit Längerem aufs Zeichnen verlegt, was allerdings schon seit seiner frühestens Jugend zu seinen Begabungen gehört. Erklären will er nichts, man soll Kunst auf sich wirken lassen. Seine Zeichnungen bestehen meist aus geometrischen Figuren, wenn er sieben Punkte mit Linien zu Flächen verbindet. Durch verschiedene Techniken entsteht manchmal ein dreidimensionaler Eindruck. Er hat sich ausgiebig mit dem Taoismus beschäftigt, der besagt, dass alles aus dem Nichts käme und wieder ins Nichts überginge. Deswegen sollte man so wenig Anhaftungen wie möglich haben, auch nicht zu dem, was man geschaffen hat. Darin liegt eine ungeheure Freiheit, eine Freiheit, die Rückriem sich konsequent auf allen Ebenen nimmt, jenseits des Kunstmarktes und anderer Konventionen.

Seine schönsten Momente sind die, wenn er in seiner Arbeit so aufgeht, dass er alles um sich herum vergisst. Da spürt er den Moment des Tuns als Ewigkeit. Klar, dass sich Pfarrer Hans Mörtter auf Ulrich Rückriem als Talkgast gefreut hatte. Durch ihre tiefgehenden Gespräche miteinander sind sie zu Freunden geworden.

Der Talkgottesdienst mit Rückriem war der lebhafteste und lustigste in unserer Reihe, dabei waren einige der Themen durchaus ernst. Wir haben einen sehr eigenwilligen und ungemein sympathischen Mann erleben dürfen, der konsequent nach seinen Überzeugungen lebt und dadurch auch mal auf Konventionen pfeift.

Ulrich Rückriem hat der Lutherkirche sieben Zeichnungen für unsere Fensterscheiben vermacht, über die wir uns mächtig freuen.

Text: Helga Fitzner, Fotos: Stefan Schmiedel

ÜBER DIE WEISHEIT DER NATUR

Hans Mörtter und Ulrich Rückriem stehen vor der Gemeinde. Ulrich Rückriem setzt sich nicht auf seinen „Talksessel“, sondern schaut sich die Leute an.

Ulrich Rückriem: Wie viel seid ihr denn alle zusammen? Ich hab euch was mitgebracht – ein Geschenk, dass ihr nicht sauer auf mich seid. Wollt ihr’s haben? Wie viel sind es denn?

Hans Mörtter: Später, Ulrich. Hock dich erst mal hin.

Ulrich Rückriem: Halt die Schnüss! Erst das Geschenk, dann habt ihr gute Laune. (Schaut kurz auf Hans Mörtter, dann wieder zur Gemeinde) – Komm, ist egal, wir machen das, wie der das will. Könnt ihr Platt?

Hans Mörtter: Hast du die Rückseite vom Liedblatt gesehen?

Ulrich Rückriem: (Sieht, dass dort sein Geschenk, sieben Zeichnungen, abgebildet ist). Ja, wunderbar.

Hans Mörtter
Also, erst mal freue ich mich, dass wir hier sitzen. Auf der Leinwand neben mir laufen Bilder aus deinem Museum die ganze Zeit durch. Deine Tochter Juliane hat sie zusammengestellt, vielen Dank dafür. – Wir beide sind uns in den letzten drei Jahren häufiger begegnet – als Nachbarn und Südstädter im Café Sur und im Roland Eck, und irgendwann haben wir angefangen, miteinander zu reden, und zwischendurch waren wir auch immer wieder mal alleine. Auf einmal dachten wir, wow, wir sind wie zwei Walfische, die sich im Meer treiben lassen und tieftauchen und dann prustend hochkommen, und dann sagst du immer: Mama mia! Dann staunen wir, worüber wir gerade geredet haben, wie kamen wir denn darauf? Fazit ist: Ach, das können wir auch einmal mit euch allen zusammen machen. Wir reden heute mal miteinander, wir lassen kommen, was kommen will. Kurz vorher haben wir gemerkt, ach, worauf haben wir uns nur eingelassen? Da fiel auch schon mal das Wort mit dem Sch am Anfang. Aber jetzt gibt es kein zurück mehr. Du bist aufgeregt, immer noch?

Ulrich Rückriem
Ich hab so was lang nicht mehr gemacht. Ich war ja mal Professor, und da musste ich das manchmal machen. Das ist mir sehr schwergefallen. Ich hab nachher aufgehört, weil ich gemerkt hatte, dass man Kunst nicht lehren kann und auch nicht lernen kann.

Hans Mörtter
Das ist eine ganz spannende Geschichte. Wenn man Professor wird, macht man üblicherweise seine Doktorarbeit, dann seine Habilitation, du aber nicht. Du warst einfach Ulrich Rückriem von Anfang an.

Ulrich Rückriem
Ja, das haben die anderen alle gesehen, ich hab das selber gar nicht gemerkt.

Hans Mörtter
Aber du hattest wahrscheinlich noch ein bisschen mehr. Als du Baby warst, ist deine Mutter gestorben, das war ganz furchtbar, aber du sagst, du hast anscheinend was von ihren Genen geerbt.

Ulrich Rückriem
Ja, die muss begabt gewesen sein. Ich war es ja nicht. Die haben mich in Düsseldorf (an der Kunstakademie Düsseldorf) nicht angenommen. Später wollten die mich als Professor, und ich habe gefragt: Ich kann hier gar nicht lehren. Als ich bei euch Student sein wollte, habt ihr gesagt, nee, nee, du bist nicht begabt. Dann bin ich als Professor berufen worden. (An die Gemeinde gerichtet) Findet ihr nicht das auch ein bisschen komisch?

Hans Mörtter
Aber Ulrich, du hast einige Zeit an verschiedenen Kunsthochschulen gelehrt. Wie kann ich mir das vorstellen? Saßen die Studenten vor dir und du hast denen was erzählt, und es gibt ja auch Prüfungen?

Ulrich Rückriem
Ich hab mit denen das gemacht, was ich selbst auch gemacht habe. – Ich bin ja Steinmetz geworden. Das kam so. Ich hab das Abitur nicht geschafft, weil ich zwischendurch krank war und ein ganzes Jahr im Krankenhaus gelegen hab. Dann war ich in Knechtsteden, ich sollte Missionar werden. Ihr kennt ja Knechtsteden, das ist (ein Kloster und Missionshaus) bei Dormagen. Der Finger hat mich gerettet (hält seine Hand hoch), da ist ein Ball drauf geflogen, der Nagel war hin. Die haben mich falsch behandelt, dann ging das ins Bein rein, und ich hatte eine Entzündung in der Knochenhaut. Das hat ungefähr ein Jahr gedauert. Danach bin ich nach Siegen, komischerweise war mein Onkel in der Nähe Pastor. Da hab ich zum ersten Mal Frauen richtig schön gefunden, und gesagt, nee, ich geh nicht mehr ins Kloster zurück. Deswegen habe ich aber das Abitur nicht machen können, weil ich hätte zurückgehen müssen. Doch der Zeichenlehrer hat mir damals gesagt, du kannst unheimlich schön zeichnen und modellieren, werde Bildhauer. Aber erst musst du Steinmetz werden, damit du leben kannst, damit du was zu essen hast. Das hab ich dann gemacht, am Anfang Grabsteine, jede Menge, überall stehen die rum. Zwischendurch habe ich noch sogenannte freie Kunst gemacht, zum Beispiel auch Porträts in Steinen und Holz, die kann man in Museen sehen, ich weiß nicht genau wo

Hans Mörtter
Aber du hast zwischendurch auch immer wieder gezeichnet.

Ulrich Rückriem
Zeichnen tust du eigentlich immer. Jetzt zeichne ich ja nur noch. Was da an der Wand …

Hans Mörtter
Kommen wir später zu.

Ulrich Rückriem
Ist gut, nicht so schnell.

Hans Mörtter
Dann gehe ich noch ein Stück zurück. 1938 bist du in der Stadt geboren, deren Namen man in Köln nicht sagt …

Ulrich Rückriem
Weil dann kriegste hier kein Kölsch mehr.

Hans Mörtter
Dann musst du dein Leben lang Düsseldorfer Alt trinken, das ist auch eine Art Hölle. Du sagst, du hast eine gute, eine schöne Kindheit gehabt.

Ulrich Rückriem
Ja, sehr schön.

Hans Mörtter
Du bist in einer dörflichen Struktur aufgewachsen, aber trotz alledem ein klassisches Kriegskind. Du wurdest in einer Zeit geboren, die so was von beschissen war, in jeder Hinsicht – Diktatur, Faschismus, Krieg, Zerstörung –, das heißt, irgendwas hast du als Kind auf jeden Fall davon mitgekriegt. Du sagst, das weißt du nicht mehr so, aber gibt es da was, an das du dich noch erinnerst, und gibt’s dann vielleicht auch Dinge, die dich so ein Stück weit geprägt haben in der Art, wie du arbeitest? In diesem Suchen nach dem Echten. Du hast da ja einen Blick für.

Ulrich Rückriem
Das ist ganz schwierig zu beantworten. – Ich versuche immer, zum Ursprung zurückzukehren. Die letzten Steine, die ich gemacht hab in Anröchte, sind der Ursprung. Der Ursprung ist ganz einfach zu erklären: Im Steinbruch gibt es das sogenannte Gebräch, wo die Steine aus der Erde herausgespalten und herausgezogen werden. Die sind zweimal horizontal gespalten, durch das ganze Gebräch, und haben ganz viele vertikale Teilungen, die die Natur so gemacht hat. Die sind 120 Millionen Jahre alt, und die kann man so rausziehen und wieder zusammenbauen. Eine sehr große Arbeit steht vor dem Museum in Düren. Wenn ihr da mal hinkommt, könntet ihr so einen Ursprung sehen. Dann gibt es noch welche in Amerika und überall in der Welt. Der Ort, wo der Ursprung hinkommt, ist Teil der Arbeit, so 50 Prozent. Hier in der Lutherkirche ist es dadurch, dass da sieben Fenster sind, weil die Sieben eine Zahl ist, die mich fasziniert und die sich aus meiner Zeichnung entwickelt hat. Aber jetzt noch mal zurück zum Stein, also zu meinem Werdegang. Die einzige Prüfung in meinem Leben, die ich überhaupt gemacht hab, war die Gesellenprüfung als Steinmetz. Da bin ich ganz stolz drauf, ich hab sonst nie eine Prüfung gemacht. Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich verdammt ungebildet. Vielleicht könnt ihr alle sagen, ich bin gebildet, aber ich muss ganz ehrlich sagen, wenn ich ein Buch lese, hab ich ganz große Schwierigkeiten, weil ich vieles nicht verstehe. Ich lass es aber dabei. Ich will nicht alles verstehen. Ich will auch nicht mehr so viel denken – das macht mich krank. Das Denken hat die ganze Erde, die ganze Welt – für meine Überzeugung – so sehr verändert, dass wir jetzt nur noch mit dem Ding in der Hand auf der Straße rumlaufen – wie heißt das Internetscheißdreckding da –, das kann ich nicht, das will ich auch nicht. Ihr müsst euch mal vorstellen, das wird immer komplizierter. Ich kann kaum einen Brief lesen, der von der Bank kommt oder von der Versicherung oder von der Steuer. Ich brauche immer jemanden, dem ich vertrauen muss, dass der das für mich liest, versteht und dann die richtige Entscheidung trifft. In einem Jahr bin ich 80 Jahre alt, und ich kann es nicht mehr und ich will es auch nicht mehr.

Hans Mörtter
Ich glaube, du willst es nicht mehr.

Ulrich Rückriem
Ich will es nicht mehr, ich möchte am liebsten laufen gehen.

Hans Mörtter
Ich finde das total witzig, wenn du sagst, ich bin ungebildet. Du bildest dir auf dich nichts ein, und das finde ich einfach sehr beeindruckend.

Ulrich Rückriem
Es gibt ein schönes Buch, wo ich neulich nur das Cover gesehen hab, da steht drauf: Wer bin ich? Das ist ein Inder, irgendwie ein Buddhist. Aber das Einzige, was ich wirklich gelesen hab und in etwa verstanden war ein Buch über den Taoismus. Lao-tse, der ist der Wichtigste, aber der kann nicht alles allein geschrieben haben, andere müssen mitgemacht haben. Das muss 2000 Jahre vor Christus gewesen sein. Das ist kein Glaube, sondern eine Weisheit, und das ist das, was mich so überzeugt hat: die Weisheit, die aus der Natur gezogen wird, aus dem, was du jeden Tag siehst, also mit dem Sonnenaufgang … Ich hab neulich zum ersten Mal kapiert, dass wir uns bewegen und nicht die Sonne, wenn die auf- und untergeht. Verdammte Scheiße, hab ich gedacht, das darf doch nicht wahr sein. Ich bin jetzt fast 80 Jahre alt, und ich hab nicht gemerkt, dass wir uns drehen. Seid ihr nicht platt? Habt ihr das gespürt?

Hans Mörtter
Es hört auch nicht auf.

Ulrich Rückriem
Nee, aber das musste dir mal vorstellen. Es gibt ganz viele Sachen, die ich durch den Taoismus gelernt habe. Ganz zum Schluss kommt der fantastischste Satz: Tue nichts, sei still! Und jetzt sitze ich hier und rede wie ein Wahnsinniger.

Hans Mörtter
Das hatten wir im Vorfeld klargemacht, dass wir die Stille gut finden, aber dass wir trotzdem reden. – Du hast einen ganz besonderen Zugang zum Material, zu den Steinen. Du sagst, du nimmst das von innen wahr.

Ulrich Rückriem
Das ist ganz simpel, so kompliziert ist es überhaupt nicht, wenn du Steinmetz bist. Einmal, da war ich nicht mehr in der Lehre und hab gedacht, so, ab heute bist du Bildhauer. Das war in Nörvenich, in der Burg hab ich da gewohnt. Da hab ich fünf Steine bestellt, dieselbe Größe. Als der Lastwagen kam, sah ich, dass die Schlauen, um Platz zu sparen, einen Stein in fünf Teile gespalten hatten. Ich denke, das darf doch nicht wahr sein. Die haben die aufeinander gesetzt, das braucht dann weniger Raum, ist ja klar. Dann hab ich gefragt: Woher habt ihr den Stein? Da bin ich dann hingezogen und hab bei einem Bauern was gemietet und in dem Steinbruch angefangen, meine sogenannte – na ja, die sagen ja alle, es wäre weltberühmte Scheiße, die ich gemacht hab. Aber das ist doch fantastisch, ne? So hat es angefangen.

Hans Mörtter
In Anröchte war das.

Ulrich Rückriem
Anröchte bei Soest. Also das geht so: erst mal den Stein aus dem Gebräch ziehen, so wie er ist, dann entscheiden, ob ich den haben will. Dann hab ich den weitergespalten, geschnitten, geschliffen und poliert. Also das Polieren kam später bei anderen Steinbrüchen in der ganzen Welt, wo der Granit herkommt. Dolomit kann man nicht polieren, das geht nicht, das ist ein Kalksandstein. So, jetzt wisst ihr ungefähr … Da hab ich die Studenten mit hingenommen, die haben bei mir gewohnt. Die erste Arbeit, die die gemacht haben, war ganz interessant: Ich hab einen Rohblock hingestellt und gesagt, messt den aus, versucht mal, da einen Quader rauszuhauen, einen Quader mit Hammer und Meißel. Da musst du dich unheimlich konzentrieren, dass du das überhaupt schaffst. Wenn ich das heute machen müsste, würde ich es nicht mehr schaffen, das Maß zu halten. Das ist enorm, das ist so wunderbar, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Das war dann das Einzige, was ich denen beibringen konnte. Wir haben natürlich auch über (Constantin) Brancusi gesprochen oder (Auguste) Rodin oder Kunstgeschichte – die hab ich auch nicht studiert, aber ich hab sie einfach zwischendurch immer mal wieder angesehen. Aber ich bin kein Kunsthistoriker, das bin ich nicht.

Hans Mörtter
Hier ist ein Zitat aus der „Zeit“ von Ulrich Clewing: „Rückriem ist ein Meister der Monumentalität, aber es ist eine Monumentalität der Natur, nicht der Kunst. Bei ihm dürfen Steine sein, was sie sind.“ – Ein Meister der Monumentalität.

Ulrich Rückriem
Ja, wenn, was Großes. Es gibt immer noch was Größeres wie groß. Es gibt immer noch was Kleineres wie klein.

Hans Mörtter
Aber das sieht man an deinen Arbeiten, die haben eine wahnsinnige Wirkkraft.

Ulrich Rückriem
Da is jet am Laufe.

Hans Mörtter
Man kann eine Ahnung kriegen, aber eigentlich in Wirklichkeit nur in Natur, man muss es erleben.

Ulrich Rückriem
Wenn ihr Lust habt oder Zeit habt, das ist 35, 40 Minuten von hier, da könnt ihr nach Sinsteden, das ist bei Dormagen, da hab ich vor etwa 25 Jahren ein Museum gebaut mit zwei Hallen, drumrum ist ein kleiner Park, da stehen auch Außenskulpturen, und in den Hallen steht mehr oder weniger alles, was ich gemacht hab. Viel schöner wie in jedem Museum, wo ich mal ausgestellt hab, wo jetzt noch Arbeiten sind. Mein eigenes Museum ist das beste Museum für mich. Ich bin fest davon überzeugt, dass es viel besser ist, wenn man es selber macht. Wenn ich in die Museen gehe, die sind so rappelvoll. Ich gehe deshalb nicht mehr hin. Ich komme mir manchmal vor, als wenn ich auf den Friedhof gehe. Die sind alle tot, die meisten sind ja tot, und wenn da einer noch lebt, da hat der Schwein gehabt. Also wirklich, das ist katastrophal. Ich meine, wenn ich jetzt Kappes erzähle, hört nicht genau hin, aber das ist eben so.

„MEINE STEINE SIND AUCH TEMPEL“

Hans Mörtter
Jetzt sag mal, das ist lange her, aber das fand ich sehr beeindruckend, als ich’s gesehen habe. Du hast nämlich in Hamburg 1984 vor der Ruine der Nikolaikirche einen Stein gesetzt. Wenn man so auf den Stein und dann in der Verlängerung den zerstörten Turm der Nikolaikirche sieht, ist dieser Stein so was wie eine andere Form von Eingang – der verschließt auf der einen Seite, öffnet aber auf der anderen Seite, steht in einer Beziehung. Diese Zerstörung, Verletzung, vielleicht auch Verstörung ist eine große Irritation und dagegen steht so die stille Wahrhaftigkeit deines Steins, deiner Arbeit. Ich war fasziniert, weil das so eine unglaubliche Präsenz hat.

Ulrich Rückriem
Das weiß ich nicht so genau. Ganz genau hab ich den Stein nicht im Kopf, weil ich so viel gemacht habe, aber meistens ist es so, dass der Ort, wo ich etwas hinstelle, Teil der Arbeit ist, das sind so 50 Prozent. Wenn eine Skulptur so einfach ist, wie ich sie mache, dann geht der Blick sehr schnell in die Umgebung, das ist ganz normal. Habt ihr das verstanden? Sagt doch mal ja! (Die Gemeinde lässt ein deutliches Ja hören). Deswegen ist es so gemein, wenn da jetzt die Umgebung verändert wird. Zum Beispiel steht eine sehr schöne Arbeit von mir, eine ganz große Stele auf dem Philosophenplatz, wo die Brücke rübergeht, auf der anderen Seite ist auch noch die Uni Köln, der Albertus Magnus sitzt da auf nem Stuhl, eine schöne Arbeit, und wenn man über die Brücke rübergeht, steht die auf dem Platz. Jetzt verändern die den Platz so stark mit einer Treppe, die sie davor bauen, da hab ich gesagt, nee, nee, das geht nicht, dann müssen sie abbauen, weil ich das damals der Uni geschenkt hab. Kannst du die irgendwo anders hinsetzen? fragen die. Ich sag, nein, die wird abgebaut, und ich bestimme dann, wo die hinkommt. Haltet euch da raus – Knallerbsen, wie sie sind, grauenhaft, hältste im Kopf nicht aus. Und das passiert öfters, aber ich kann jetzt nicht durch die ganze Welt flitzen und überall gucken, ob die Arbeiten noch richtig stehen.

Dann werden sie jetzt mittlerweile auch sehr stark beschmiert und zum Teil verbrannt. Jetzt kommt das Allerdollste: Ich hab das einmal in England – in England kann man ja einiges erleben, was man vielleicht im Rest von Europa nicht erleben kann, ich mag England nicht. Ist hier ein Engländer? (Ja). Hab ich vielleicht Pech. Nee, pass auf, da haben die wahrhaftig fertig gebracht, Autoreifen, drei, vier große Autoreifen um die Skulptur zu stellen, haben da Benzin drübergeschüttet und haben die angezündet. Das war so ein starkes Feuer und so eine starke Hitze, dass der Granit geplatzt ist. Bumm, weg war er. Dasselbe ist hier in Essen passiert – jetzt hab ich vergessen, wie das heißt, wo die Skulpturen stehen. Da war eine Arbeit, wo ich da reingegangen bin in das Material, hab’s rausgenommen, und da entsteht eine Leere innen, und da haben die auch ein Riesenfeuer reingemacht, und da ist die auch geplatzt. Also es fängt jetzt an, dass Arbeiten von mir zerstört werden – entweder vom Vandalismus oder eben von der Stadt oder vom Staat oder von denen, die dann den Ort, weil er zu 50 Prozent so wichtig ist, so verändern, dass die Skulptur da nicht mehr hinpasst. Dann muss sie weg. Wenn so eine Arbeit vor einer Ruine steht, dann ist das ja da auch schon passiert. Und das Nächste, was passieren kann, ist eigentlich schon, dass auch meine Arbeit irgendwann mal Ruine wird. Dann ist es eigentlich auch so, der einzige Ort, wo es in etwa sicher ist, ist eben das sogenannte Museum, aber das kann ja auch mal von einer Bombe getroffen werden und auseinanderfliegen.

Hans Mörtter
Da gibt es viel Dummheit im Umgang mit den Werken – also was Stadtverwaltungen so machen, leben wir gequält in Köln mit. Beim Vandalismus hab ich das Gefühl, das hat auch was damit zu tun, dass Arbeiten von dir auch eine große Provokation sind für Menschen, die nicht mehr wissen, wer sie sind, die ein Stück ihrer Identität verloren haben. Auf einmal sind sie mit einer Arbeit von dir konfrontiert, und das ist dann nicht auszuhalten, also wird der Stein zerstört.

Ulrich Rückriem
Es kann auch sein, dass sie verärgert sind, dass das Kunst sein soll. Jeder hat ja eine eigene Vorstellung von Kunst. Jeder von uns hat ein anderes Gefühl. Wenn er ins Museum geht, dann mag er das und das andere nicht. Ein Künstler muss heute behaupten, das, was ich mache, ist Kunst, und das steht im Gegensatz zu allem anderen. Andere sagen, nein, das ist für mich keine Kunst, oder das ist prima, das ist richtig, das ist gut. Dann dürft ihr nicht vergessen, da kommt das Kunstgeschäft und definiert dann ganz bestimmte Arbeiten, weil es wie Gold behandelt wird.

Hans Mörtter
Das heißt, der Kunstmarkt bestimmt, was Kunst ist.

Ulrich Rückriem
Im Grunde ja.

Hans Mörtter
Du kannst als Künstler teilweise sagen, was du willst, es nützt ja nichts.

Ulrich Rückriem
Das ist ja klar, dass auch Kunstkritiker und Leute, die Ausstellungen machen, Galerien und Museen das mit bestimmen. Auch wenn ich jetzt über den Kunstmarkt schimpfe, hab ich ja eigentlich auch ganz stark davon gelebt. Das ist ja so eine Art von Schizophrenie. Ich hab Glück gehabt und in sehr guten Galerien angefangen, und dadurch bin ich in Museen gekommen, und dadurch haben Kritiker das hochgespielt, fanden das gut, und dann ging’s in die Welt. Ich war ja in fast jedem Erdteil, hab überall Arbeiten gemacht.

Hans Mörtter
Deine Arbeiten, finde ich, die geben auch eine Stabilität vor. Du sagst: Meine Steine, die sind auch Tempel.

Ulrich Rückriem
Na ja, mit dem Tempel, das ist nicht gefährlich. Es gibt ganz bestimmte Arbeiten. Das Denkmal für Heinrich Heine in Bonn, das ist so eine Art von Tempel. Durch das Spalten, Schneiden, Schleifen und Polieren – ich hab den Namen in das Innere des Tempels oder des Steines reingesetzt. Das ist fantastisch, dass das Drumherum so stark mitwirkt. Dahinter ist ein Berg, der geht leicht hoch, und oben steht ein anderes Denkmal, von einem anderen. Ich hab vergessen, wie der heißt.

Hans Mörtter
Das heißt, das Denkmal für Heine ist im Kontext mit allen so ein Stück Ewigkeit? Was es dann zum Tempel macht.

Ulrich Rückriem
Das ist schwierig. – Zum Beispiel, das ist ein Altar hier. Ich hab Altäre gemacht, sieben Stück, in Deutschland stehen sieben Altäre rum, und der letzte, den ich gemacht habe, ist in Hildesheim in der wunderschönen Kathedrale. Da hab ich zum ersten Mal Gold eingesetzt – da lacht ihr euch kaputt, ne? Da hab ich den Tisch gemacht durch Spalten und Schneiden und das Innere rausgezogen und dann war es ein Tisch. Dann hab ich die Innenseiten vergoldet, und das Licht von einem Chorfenster kam in den Altar rein, das war wahnsinnig, wie das gewirkt hat. Dann hab ich gedacht, so, erst mal ist es ein Tisch, doch weil ich es gemacht hab, ist es eine Skulptur, und wenn ihr jetzt an Gott glaubt, ist es ein Altar. Alles kapiert?

Hans Mörtter
Es lohnt sich auf jeden Fall. Guckt im Internet mal unter Hildesheimer Altar. Wenn ich mal in Hildesheim bin, muss ich mir das auch mal angucken und auf mich wirken lassen, weil das phänomenal ist. Ich glaube, die katholische Kirche selber hat gar nicht so richtig begriffen, was sie da hat.

Ulrich Rückriem
Nee, die wollten das umsonst haben. Da hab ich gesagt, kommt gar nicht infrage. Ich hab so viel Steuern bezahlt, ich bin ja nie ausgetreten, hab ich verpasst. Nee, nee, das ist enorm, und da wollten sie mir ein Grab anbieten. Da gibt es so wunderbaren Rosenstrauch, 2.000 Jahre alt, wahnsinniges Ding, und der Erzbischof, der war aus Kölle, sagt zu mir: Hör mal, wenn du das umsonst machst, kriegst du das Grab hier unter dem Rosenstrauch. Da hab ich gesagt, leg dich da selbst rein. Dann hat er gesagt: Komm, lass uns einen trinken gehen.

Hans Mörtter
Also kein heiliger Ulrich Rückriem. Wir machen eine kleine Pause …

Ulrich Rückriem
Nee, wir können auch aufhören. Wenn ihr nach Hause gehen wollt …

Hans Mörtter
Halt die Schnüss, Ulrich, du hörst jetzt Bettina mit dem, was sie für dich ausgesucht hat.

Ulrich Rückriem
Spielst du was von Bach? Haste ne Fuge … Kannst du ne Fuge spielen? Ich kann eine, ich kann die selber machen. Ich bin kein Musiker, ich klimper.

(Bettina Scheibler spielt auf der Bratsche eine Fuge von Bach)

Hans Mörtter
Die Bratsche von Bettina ist auch was Besonderes, nämlich über 200 Jahre alt. Ein Schatz. Kommen wir noch mal zurück zum Hildesheimer Altar: Archaisch ist dieser Stein, ur-menschlich könnte man sagen, und ist eigentlich, dachte ich mir, eine Provokation, ein Widerspruch zu jeder enggeistigen Inbesitznahme durch etablierte Kirchen, also so wie: Mach uns da jetzt mal was Besonderes, mach uns da mal einen Altar.

Ulrich Rückriem
Es bleibt ja ein Altar.

Hans Mörtter
Ja, aber ist das nicht eine Provokation eigentlich, dein Altar?

Ulrich Rückriem
Nee, der ist still.

Hans Mörtter
Der ist still. Und drumherum passiert die Eucharistie, die Wandlung, großes Trarara, großes In-Szene-Setzen.

Ulrich Rückriem
Eine ganze Menge verstehe ich selbst nicht so genau. Ich geb eigentlich auch auf, wenn ich da nicht reinkomme, wenn ich das nicht verstehen kann, wenn ich das nicht erfühlen kann, dann muss ich es akzeptieren. Ich muss auch meine Hilflosigkeit akzeptieren. Das ist das Allerwichtigste überhaupt.

Hans Mörtter
Ich hatte das Gefühl, dass du mit dieser Arbeit eigentlich der katholischen Kirche oder Kirche wie auch immer, Entwicklungshilfe gibst, nämlich, dass egal, was da geschieht, dass das eine Tiefe bekommt. Genau wie mit dem Bild, das wir hier an der Wand haben von Christos Koutsouras, dieses wahnsinnige Bild. Das gibt dem, was hier geschieht, noch mal eine andere Tiefe, eine Tiefenschärfe, eine Konzentration, je nachdem, was man …

Ulrich Rückriem
Es ist sehr wahrscheinlich, dass man es gar nicht verstehen kann.

Hans Mörtter
Weil man es nicht verstehen muss, weil man es nicht begreifen kann.

Ulrich Rückriem
Es gibt auch zum Beispiel das Wolkenbild, das sich dauernd verändert. Wenn ich in den Himmel gucke und das Wolkenbild sehe oder die Veränderungen, morgens bis abends und sogar bis in die Nacht, wenn der Mond kommt, dann bin ich fasziniert. Dann gibt es eben auch die Künstler, die das versuchen zu erreichen oder da ranzukommen. Aber das gibt es auch, dass man es irgendwann nicht kann, dass man es nicht erreichen kann. Das muss man einfach akzeptieren, wie man Krankheiten, die man bekommt, akzeptiert. Man kann sogar – hab ich gelesen, wie das geht, weiß ich nicht –, eine Krankheit umformen in etwas Heiliges, in etwas Positives, zu etwas, was hilft. Das hab ich noch nicht ganz kapiert – wenn ich Schmerzen hab, denke ich, hoffentlich sind sie bald vorbei. Das sind eine ganz Menge auch philosophische Fragen.

Hans Mörtter
Ja, weil es dich herausfordert, was geschieht.

Ulrich Rückriem
Ja, und das ist eigentlich mit der Kunst auch so. Man kann Kunst eigentlich nicht erklären. Aber ich versuche es, da ist ja eine Logik drin in den sieben Punkten meiner Zeichnungen. Ich verteile sieben Punkte auf ein Blatt und verbinde vom ersten zum zweiten zum dritten zum vierten zum fünften zum sechsten zum siebten, und der siebte geht wieder an den Anfang zurück, das ist das Prinzip.

Hans Mörtter
Das seht ihr auf den sieben Wabenfenstern.

Ulrich Rückriem
Die sind da drin.

Hans Mörtter
Lesen und sehen muss man es von links nach rechts.

Ulrich Rückriem
Da ist von eins bis sieben, und der Ort ist sehr wichtig, nicht nur weil es eine Kirche ist, sondern weil es da sieben Fenster gibt, die hintereinander kommen. Dann gibt es eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, und weil eben die Zahl sieben vorhanden ist, und die sieben Punkte, die ich verbinde, und dann die Flächen, die kann ich jetzt schwarz, blau, rot, gelb, weiß … die ganzen Variationen hab ich gemacht. Ich hab ungefähr 7.500 Zeichnungen in den letzten zehn Jahren gemacht. Das ist so etwas, was endlos ist, was in die Endlosigkeit geht, was andere auch übernehmen können. Es gibt auch schon andere, die das für mich gemacht haben. Es geht aus dem verdammten Kunstmarkt raus. Ich signier die auch nicht. Ihr kriegt nachher was geschenkt, kommt nicht und fragt mich, ob ich das signiere. Habt ihr verstanden? Sonst werde ich ganz sauer.

Hans Mörtter
Ulrich, du sagst, ich mache das und das kann jeder machen. Aber da gehört schon eine spezieller Blick dazu und ein Schuss Wahnsinn vielleicht auch.

Ulrich Rückriem
Ja, ein Schuss Wahnsinn.

Hans Mörtter
Wenn man sich in deiner Wohnung umschaut, da hast du ja auch sieben mal sieben Punkte, 49 Punkte, und ich guck da drauf, mit den vier Grundfarben sind die Flächen ausgemalt, und ich dachte, mir sprengt es das Gehirn.

Ulrich Rückriem
Ja, du wirst verrückt, man kommt ins Irrenhaus.

Hans Mörtter
Allein das Gucken, das geht nicht, das schießt einen weg. Wenn es mich schon wegschießt nur vom Draufgucken, wie ist es dann mit dem, der das macht?

Ulrich Rückriem
Man kann es sogar mit dem Computer machen.

Hans Mörtter
Wirst du zum Richter (Gerhard Richter) oder?

Ulrich Rückriem
Nee, den mag ich nicht. Das darf ich nicht sagen. Weißt du, das ist so was, was ich dann nicht darf, das tut man nicht. Sollen wir ne kleine Pause machen.

Hans Mörtter
Wir kommen zum Schluss, gleich.

Ulrich Rückriem
Schluss, kann ich nach Hause?


„DAS JETZT IST DAS WESENTLICHSTE ÜBERHAUPT“


Hans Mörtter

Nee, noch bist du nicht raus. Wann hast du angefangen, vor 15 Jahren, vor gut 15 Jahren mit den Zeichnungen.

Ulrich Rückriem
Ja, ja.

Hans Mörtter
Das heißt, der sogenannte Kunstmarkt in Deutschland, die waren von der Söck‘, kann man so sagen.

Ulrich Rückriem
Die mögen das nicht.

Hans Mörtter
Die mögen das nicht. Wobei, du hast doch vor ungefähr zwei Jahren im Museum Ludwig die Arbeiten noch ausgestellt.

Ulrich Rückriem
Na ja, das war der Kasper König, da hab ich den überredet, das auf die Glasscheiben zu machen. Das war nicht die freie Figuration, sondern die gebundene Figuration. Die entwickelt sich aus dem Schachspiel. Wenn ich jetzt ein Schachbrett nehme, das sind acht mal acht Felder, und nicht der Rand, aber innerhalb der acht mal acht gibt es sieben mal sieben Punkte, und die kann ich ja auch verbinden, so, dass sie sich gegenseitig nicht treffen können. Das Damenproblem mit dem Schach ist ja so, dass man acht Damen so hinstellen muss, dass sie sich gegenseitig nicht schlagen können, und da gibt es 92 Variationen. Das haben so Ungarn im besoffenen Kopf irgendwann mal gesagt, es gibt da ein Problem, lass es uns versuchen. Dann haben die das gemacht. Das hab ich übernommen, das hab ich mit ausgearbeitet, und daraus ist eben die gebundene Figuration entstanden, und was hier hängt, ist jetzt die freie Figuration. Dann hab ich mich von dem Rastersystem gelöst und hab das übertragen auf die freie Figuration, die freigesetzten Punkte. Aber das geht euch jetzt auch langsam auf den Wecker, ne? Ich sehe es euch schon an, ihr möchtet nach Hause gehen.

Hans Mörtter
Noch nicht. Auch dafür gibt es jetzt einen Begriff, nämlich die gemalte Skulptur. Die Zeichnungen sind gemalte Skulptur.

Ulrich Rückriem
Gemalte Skulptur, wat is dat dann?

Hans Mörtter
Ja, weil schlaue Leute entdeckt haben, was du da malst, das ist im Grunde das, was du mit den Steinen auch gemacht hast, ist nur ein bisschen einfacher, also leichter vom Gewicht zumindest. Man kann es in die Tasche stecken, man kann es überall mitnehmen, man kann es zeigen, man kann es verschenken, einfach so weitergeben.

Ulrich Rückriem
Nein, es gibt eine Möglichkeit, das hab ich auf dem Klavier stehen bei mir, das kann man in so Scheiben machen und die dann ausschneiden und verändern. Man kann es zu einer Skulptur bringen. Bei den Punkten habe ich Nägel eingesetzt und hab die dann mit schwarzen Fäden verbunden. Dann ist das ja auch schon eine Skulptur. Aber die Skulptur fängt bei der Dreidimensionalität an, das ist da jetzt in den Zeichnungen drin. Die vierte, die macht dann den Raum. Das Verrückte ist ja, ein Raum entsteht nur dadurch, indem man Fenster oder Türen reinmacht. Wenn du einen Raum hast, der total zu ist, ist er gar kein Raum. Das ist ja das Verrückte: Wenn ihr euch das vorstellt, dass ein Fenster und eine Türe, eine Öffnung erst den Raum macht. Das kann nur ein Raum sein, wo nur ein Fenster drin ist, aber da musst du durch das Fenster in den Raum klettern. Ist das nicht wahnsinnig, wenn du dir überlegst, dass die Architekten deswegen – auch in London – so verrückt geworden sind. Die haben nichts anderes gemacht … die haben versucht, Skulptur in Architektur umzusetzen, und das geht in die Hose, weil da keiner mehr drin leben kann. Das ist das Verrückte. Deswegen, die Architekten sind ziemliche Arschlöcher.

Hans Mörtter
Nicht alle. Ich geh noch mal zu den Wabenfenstern zurück, die wir jetzt das Vergnügen haben, immer wieder sehen und erleben zu können. Die Zeichnungen, das sind Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die du auf die Fenster gebracht hast. Unsere Fenster sind handgeblasen, und wenn man von draußen guckt, sind sie schwarz, und wenn man von innen guckt blau.

Ulrich Rückriem
Das ist ein reiner Zufall, das wusste ich vorher nicht.

Hans Mörtter
Da haben wir gestaunt. Wow! Eine Verselbständigung, nicht geplant.
Dazu die unerwartete spannende Marmorierung durch die handgeblasenen Fenster, die deine Arbeit aufnehmen und vertiefen. Einfach spannend.

Ulrich Rückriem
Ich hab mir auch mal überlegt, jetzt sind ja die sieben, und dadrüber und dadrunter sind ja mehr, das sind ja, glaube ich, zwei mehr. Wenn du jetzt das Ganze vollmachst bis oben, kannst du es oben nicht mehr sehen.

Hans Mörtter
Aber da wirst du ja verrückt.

Ulrich Rückriem
Verstehst du? Die unteren kannst du noch sehen, die dritte kannst du vielleicht noch, vierte, aber ganz oben würdest du sie nicht mehr sehen können, aber sie wären da. Also gibt es etwas, was du nicht mehr sehen kannst und trotzdem da ist. Ist das Gott?

Hans Mörtter
Na ja, aber ich glaube, wir bleiben mal ganz reduziert, so wie es ist. Interessant finde ich jedenfalls bei deinen Zeichnungen, bei deiner Arbeit, dass in der Bundesrepublik großes Unverständnis herrscht, in weiten Teilen des sogenannten Kunstbetriebs, dass es auf der ganzen Welt aber eine große Bewunderung für diese Arbeiten gibt, die Ulrich Rückriem macht – nach der Devise: Der Prophet im eigenen Lande gilt nichts. Die anderen merken, da steckt was dahinter, und das hat was zu tun mit dem Moment der Ewigkeit. Da hatten wir auch drüber geredet über den Prozess, den Augenblick, das Jetzt.

Ulrich Rückriem
Das Jetzt ist das Wesentlichste überhaupt.

Hans Mörtter
Warum?

Ulrich Rückriem
Ist ganz einfach, kann jeder von euch erleben. Ich hab heute Morgen sieben Zeichnungen gemacht, das hat mich glücklich gemacht. Immer dann, wenn ich nicht mehr weiter weiß, zeichne ich, und das ist das Jetzt. Wenn ich an die Vergangenheit denke, dann fallen mir meine eigenen Fehler ein oder die von anderen, wie sie mir wehgetan haben oder wie sie mich verletzt haben. Oder ich hab ja auch andere verletzt. Das beeinträchtigt mein jetziges Leben. Jetzt gibt es dasselbe mit der Zukunft für mich. Ich hab Angst, ich weiß nicht genau, was morgen ist. Ich weiß auch nicht, welche Krankheiten mich jetzt demnächst überfallen werden. Verstehste, das ist ja ganz normal.

Ich hab da was gelesen. Der Autor heißt der Tolle, jetzt hab ich vergessen, wie der mit Vornamen heißt. (Eckhart Tolle) Das ist ein Deutscher, der nach London gegangen ist, als er noch sehr jung war. Er ist fast verzweifelt, hat auf einer Parkbank gesessen und wollte nicht mehr leben. Dann hat er angefangen, in London Philosophie zu studieren und ist jetzt in Cambridge Professor. Jetzt weiß ich nicht genau, wie das heißt, ist nicht nur Philosophie, es gibt auch einen Lehrstuhl für Weisheit – Weisheitslehrstuhl, das hab ich nicht gewusst. Vielleicht gibt es das in Deutschland nicht, aber Weisheit. Der hat auch das Christentum benutzt und auch den Taoismus und den Buddhismus und alle anderen Möglichkeiten. „Leben im Jetzt“  heißt das Buch. Das fand ich auch faszinierend und gut, aber ganz wichtig war das Buch, was ich vorher über den Taoismus gelesen habe. Das hat mir geholfen, und das hilft mir weiter. Und deswegen das Jetzt, ich versuche das Jetzt mit der Zeichnung reinzuholen. Ich kann das auf dem Küchentisch machen, ich bin nämlich nicht mehr abhängig von Riesentransporten, Reisen in Steinbrüche, Bewegungen von Massen und Kampf um den Ort und um dessen Erhalt – grauenhaft. Dann auch noch zusätzlich diese Scheiße mit dem Kunstmarkt. Ich bin relativ reich, ich muss jetzt nicht mehr verkaufen, das ist ganz wichtig. Ich bin frei. Jetzt möchte ich noch freier sein, aber wie geht das? Aufhören, still werden? Wenn ihr mich demnächst seht, dann lächle ich euch an, das heißt dann nichts. Ich sag euch nichts mehr. Jetzt war es genug, ich hab genug gequasselt.

Hans Mörtter
Du hast gesagt, lesen steht dann vielleicht an, nach der Stille.

Ulrich Rückriem
Aber ist doch genug jetzt.

Hans Mörtter
Ich frag dich noch mal nach der Bedeutung des Rheins für dich. Der Rhein hat eine große Bedeutung, für uns alle eigentlich.

Ulrich Rückriem
Ja, das ist fantastisch, das hab ich mehr oder weniger auch vom Taoismus. Ich gehe gern an den Rhein, setze mich da hin, rauche leider ne Zigarette und guck mir den Rhein an, und dann weiß ich ganz genau, dass der Rhein zum Meer geht und ganz viele Landschaften teilt, da passiert eine ganze Menge und da ist unheimlich was los. Aber er ist still und wird immer größer, immer stärker, kommt zum Meer und sagt zum Meer: Guck mal, wie stark ich bin. Sagt das Meer: Ich sag nichts, komm rein. Dann wirst du erleben, dann bist du gar nicht mehr da. Jetzt geht das ins Meer rein, dann kommt die Sonne und die Hitze und holt die Wolken raus, und die Wolken gehen zu den Alpen, regnen da ab, gehen in die Quellen, dann werden die kleinen Bächlein immer mehr und immer mehr und werden wieder zum Rhein, und der Rhein kommt in Köln wieder vorbei. Also haben wir einen unheimlich wunderschönen Kreislauf. Kapiert?

Hans Mörtter
Deswegen sagst du ja, Angst vor dem Tod, brauchst du nicht zu haben.

Ulrich Rückriem
Nee, das ist ja nun wieder was anderes. Das ist ja eine Angeberei von mir. Sicher hab ich Angst vor dem Tod. Jetzt kommt was ganz Interessantes: Wenn es mir richtig gut geht und ich treffe den Horst und trinke mit ihm da auf der Ecke still ein Glas Rotwein und wir gucken nur die Leute an, wir reden gar nicht.

Hans Mörtter
Die beiden sind eine Skulptur für sich.

Ulrich Rückriem
Es geht mir gut, und dann hab ich keine Angst vor dem Tod, das ist ganz komisch, ich hab nur Angst vor dem Tod, wenn ich Schmerzen hab, also wenn ich leide, wenn ich Aua hab – im Bauch oder in der Schulter oder im Knie oder in der Nase hier oben, die Scheiße krieg ich nicht los. Dann möchte ich nicht sterben, weil es weh tut. Wenn der Tod nicht weh tut, dann hab ich irgendwann gar keine Lust mehr, dann hau ich ab. Ist das klar? Weißt du, das ist nämlich ganz interessant. Wenn es mir gut geht, möchte ich sterben, wenn es mir schlecht geht, möchte ich nicht sterben. Das ist oft zum Kotzen.

Hans Mörtter
Ich finde das sehr beeindruckend, immer wieder auch durch dich so zu sehen, wie nahe auch Taoismus und Christentum miteinander sind, wobei ich sag mal, nicht das Christentum, so wie es in unseren Kirchen gelebt wird, sondern das Jesuanische, der jesuanische Gedanke.

Ulrich Rückriem
Der Lao-tse hat nie etwas gegen Gott gesagt, ist ganz wichtig. Auch, der Typ, der Physiker, der englische, wie heißt der noch … (Einwurf Publikum: Stephen Hawkings). Ja, genau. Vor drei, vier Jahren hat der gesagt, wir kommen aus dem Nichts und gehen ins Nichts. Jetzt kann es aber sein, du kannst auch das Nichts in Gott verwandeln.

Hans Mörtter
Aber das ist genau der Punkt, nämlich das ist ein aus dem menschlichen Machen heraustreten, das ist das Nichts. Das ist das Spannende. Das macht natürlich auch Sorgen, Angst, irritiert, macht bang, weil das Nichts nicht beherrschbar ist. Wir sind ein Teil davon und können uns ihm nur aussetzen in tiefem Vertrauen, indem wir uns selbst aus der Hand geben. Und uns darin finden und zur Ruhe kommen.

Ulrich Rückriem
Guck mal, das habt ihr vielleicht auch schon mal erlebt oder einige von euch, ich war mal im Koma. In einem Rolls-Royce sitze ich hinten drin, op einmal Peng, geht ein Lastwagen über uns drüber, fott simmer. Da war ich fünf Tage im Koma, und das war Wahnsinn, das war das Nichts. Das Erste, was ich je erlebt hab. Das Schlimme war, wieder ins Leben zurückzukommen, wieder ins Bewusstsein zurückzukommen. Da hab ich so viel irrsinnige Träume und ganz schreckliche Sachen erlebt, das ist grauenhaft. Aber dieses Nichts war wunderbar. Also wenn das der Tod ist, haha, könnt ihr euch drauf freuen. Besser geht es nicht.

Hans Mörtter
Das ist wie beim Atmen – man atmet aus, geht in die Pause und vertraut drauf, dass der Atem von ganz alleine wiederkommt, und der geht dann durch die Nase rein. Du brauchst keine Schnappatmung zu machen, du brauchst kein Panikatmung, der Atem kommt von allein, und das ist Leben. Ohne die Pause kommst du nämlich da nicht hin, und zwischendurch ist die Pause einfach wie tot.

Ulrich Rückriem
Ist auch wirklich wahr, mit dem Atmen, das ist ja eine der wesentlichsten Übungen, die ein Mensch machen kann. Bewusst ein- und ausatmen. Da muss ich immer an den komischen Menschen da in Amerika denken, der Typen überredet hat mit dem Om. Habt ihr von dem gehört? Der muss die größte Automobilsammlung gehabt haben, der war ja stinkereich. Wisst ihr das eigentlich? (Baghwan/Osho)

Hans Mörtter
Ulrich, ich glaube, wir machen Schluss.

Ulrich Rückriem
Ja, ja! (Will raus).

Hans Mörtter
Moment! Ich danke dir noch, es ist immer wieder wunderbar, mit dir zu reden, dich zu treffen. Ich weiß, du wirst nie wirklich schweigen, da bin ich mir sicher. Was mir natürlich ungeheuer gut gefällt: Der Kölner Dom, der hat, so sagt man, den Richter (das Glasfenster von Gerhard Richter). Die Lutherkirche in der Südstadt erlebt den Rückriem.

Ulrich Rückriem
So klitzeklein im Vergleich.

Hans Mörtter
Die Signatur passt einfach gut hier hin, und ich freue mich drauf, dass wir deiner Arbeit auch immer wieder in Veränderung und Prozessen in allen Formen begegnen werden.

Ulrich Rückriem
Ja, und keine Steine, das ist auch gut.

Hans Mörtter
Dann überlegen wir natürlich, hier bald ein geistiges, ein spirituelles, ein kulturelles Zentrum zu bauen, das in die Moderne schaut in der Begegnung mit den Weltreligionen und den Kulturen, was wir ja zum Teil schon machen. Da gehen wir raus aus der engen evangelischen Suppenschüssel und weiten uns auf ein globales Menschsein hin.
Ich weiß, dass bevor du die Flügelchen ausbreitest, um in die große Stille zu gehen, du bei unserem Neubau noch einen Stein setzen wirst.

Ulrich Rückriem
Was meinst du?

Hans Mörtter
Du hättest hier noch eine Aufgabe. Wenn wir neu bauen, gehört dazu ein Stein von dir, den du setzt. Das ist dann der Allerletzte. Du sagst, du hast mit dem Hildesheimer Altar deine letzte Arbeit gemacht. Aber es kommt immer wieder Neues dazu. Darauf bin ich gespannt. Es liegt nicht daran, dass du als einer der bedeutendsten Bildhauer unserer Zeit bezeichnet wirst, sondern ich freue mich über Ulrich Rückriem, den Menschen, den Nachbarn, den Freund – und das macht die Welt wirklich aus, die freie Begegnung, das offene Miteinander.
Danke dir!

Ulrich Rückriem
Tschö!

P.S.
Ulrich Rückriem hatte nachgedacht. Einen Tag danach sagte er mir, dass er tatsächlich einen Stein setzen will, eine Stele, seine wirklich letzte Arbeit, die er schon vor sich sieht. Auf den autofreien Platz, der beim Umbau der Lutherkirche neu entstehen wird. Darin liegt eine klare Stimmigkeit, die für uns beide selbstverständlich ist, sich im Fluss miteinander ergibt und der Südstadt konzentrierte Kraft schenken wird. (Hans Mörtter)

Redigiert und stellenweise so belassen, wie es war,
von Helga Fitzner